Die größte Migrationskrise, über die niemand spricht
Von der Weltöffentlichkeit ignoriert spielt sich im Sudan die größte humanitäre Katastrophe sowie die größte Vertreibungskrise der Welt ab – und das schon seit über zwei Jahren. Mehr als 14 Millionen Menschen wurden vertrieben. Wenn du davon noch nie gehört hast, dann ist das kein Zufall – denn Krisen landen bei uns oft nur im Newsfeed, wenn man sie instrumentalisieren kann. Sehr wenige Menschen aus dem Sudan suchen Schutz in Deutschland. Die meisten Vertriebenen sind Binnenvertriebene, das heißt, sie fliehen innerhalb der Landesgrenzen. Fast niemand sagt dir, dass dies teilweise an der Migrationspolitik Deutschlands und der EU liegt. Wenn wir eine Rolle in der größten Katastrophe des Planeten spielen, sollten wir das nicht verschweigen.
Die Fakten über die Krise im Sudan
Der Sudan, der flächenmäßig mehr als fünfmal so groß ist wie Deutschland, erlangte 1956 die Unabhängigkeit von Großbritannien. Viele politische Unruhen, Militärputsche und Machtkämpfe erschütterten das Land in der Vergangenheit. Von 1989 bis 2019 herrschte Langzeitpräsident und Diktator Umar al-Baschir. Minderheiten wurden unter al-Baschir massiv unterdrückt. Er ist als Kriegsverbrecher vom Internationalen Strafgerichtshof angeklagt. Unter seiner Herrschaft war der Sudan in einen langjährigen Bürgerkrieg verwickelt, der zwischen der Zentralregierung in Khartum und der Sudanesischen Volksbefreiungsbewegung des Südens ausgetragen wurde und Millionen Menschen das Leben kostete. Erst 2005 wurde ein Friedensabkommen geschlossen, das nach 22 Jahren bewaffneten Konflikts 2011 in der Unabhängigkeit des Südsudan mündete.
2018 kam es zu einer Revolution, im Zuge derer Umar al-Baschir 2019 nach 30 Jahren Amtszeit gestürzt wurde. Die Bevölkerung ging für einen demokratischen Wandel im Land auf die Straßen, doch der Sudan fand auch danach keine politische Stabilität. Ein Bündnis aus Militär (SAF), der Miliz RSF und Zivilist:innen der Revolution übernahm die Regierung, wurde allerdings schon 2021 von Militär und Miliz geputscht und die demokratische Transition zunichtegemacht. Viele Zivilist:innen wurden ins Gefängnis gebracht. Eigentlich hätte die Macht komplett an eine zivile Regierung übertragen werden sollen.
Machtkampf zwischen Armee und Miliz
Der Militärcoup wurde von zwei Akteuren angeführt, die im jetzigen Bürgerkrieg die zentralen Rollen spielen: Abdel Fattah al-Burhan, der Befehlshaber der sudanesischen Streitkräfte (SAF) und de facto Staatspräsident und Mohamed Hamdan Dagalo, Anführer der paramilitärischen Miliz RSF. Der Streit um die politische Vorherrschaft entwickelte sich in einen erneuten Bürgerkrieg, der seit 2023 andauert. Mehrere internationale Player sind auch im Spiel und tragen Interessenskonflikte aus, darunter der Iran, Russland und Saudi-Arabien. Welche Konfliktpartei gerade welche Gebiete kontrolliert, kannst du hier sehen:
Screenshot BBC
Mehr Hintergründe zum aktuellen Bürgerkrieg findest du beim Verfassungsblog, bei der Bundeszentrale für politische Bildung und bei ProAsyl. Und wenn du dich fragst, wo al-Baschir gerade ist? Ausgeliefert wurde er nie, Medienberichten zufolge ist er immer noch im Sudan und genießt den Schutz der Armee.
Machtkämpfe auf Kosten der Zivilbevölkerung
Die Leidtragenden des Bürgerkriegs sind die Menschen der Zivilbevölkerung. Vor allem die Hauptstadt Khartum wurde im Zuge der Kämpfe entvölkert, aber auch viele andere Teile des Landes sind betroffen. Mehr als die Hälfte der sudanesischen Bürger:innen leiden an Hunger, Krankheiten breiten sich aus, während das Gesundheitssystem zum Erliegen kommt. Schätzungen zufolge sind bereits zwischen 25.000 und 61.000 Menschen ums Leben gekommen. Sexualisierte Gewalt wird als Waffe gezielt eingesetzt. Kindersoldaten werden rekrutiert und den Konfliktparteien werden ethnische Säuberungen vorgeworfen.
Die größte Vertreibungskrise der Welt
Die meisten Bürgerkriegsflüchtlinge im Sudan befinden sich innerhalb der Landesgrenzen. Stand Ende Juni 2025 zählt UNHCR knapp 8 Millionen Binnenvertriebene seit Beginn des Bürgerkriegs 2023. Sie flüchteten in verschiedene Teile des Landes, wie du an den roten Kreisen sehen kannst:
Screenshot UNHCR
Ein kurzer Disclaimer zu den Zahlen: je nach Quelle und Berechnung schwanken die Angaben zu den Zahlen von Binnenvertriebenen. Zu beachten ist außerdem, dass manche Quellen (wie die genannten knapp 8 Millionen) nur Bürgerkriegsflüchtlinge seit 2023 erfassen. In andere Berechnungen fließen dagegen Mehrfachvertreibungen ein. Im Sudan gibt es 2,8 Millionen Menschen, die bereits vor dem erneuten Bürgerkriegsausbruch 2023 Binnenvertriebene waren und nun erneut vertrieben wurden. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) kommt daher auf eine höhere Zahl von Binnenvertriebenen, nämlich 10,1 Millionen. Einen Überblick über die Phasen der Vertreibung seit 2023 zeichnet die IOM Displacement Tracking Matrix:
Screenshot IOM
Ins Ausland – meist in die Nachbarländer – flohen bislang 4 Millionen Schutzsuchende. Unumstritten ist, dass es sich im Sudan um die größte Vertreibungskrise der Welt handelt, mit mehr als 14 Millionen Vertriebenen insgesamt.
Die Zahl der Binnenvertriebenen steigt weltweit
2024 stieg die Zahl der Binnenvertriebenen weltweit auf einen neuen Höchststand. Insgesamt zählte ein Bericht der Beobachtungsstelle für Binnenvertriebene (IDMC) und des Norwegischen Flüchtlingsrats (NRC) weltweit 83,4 Millionen Binnenvertriebene.
Screenshot Tagesschau
Dabei wird zwischen Vertriebenen aufgrund von Konflikt und Gewalt (in Orange) und aufgrund von Naturkatastrophen (in Blau) unterschieden. Bei Naturkatastrophen beinhalten die Zahlen auch Evakuierungen.
Screenshot Global Report on Internal Displacement
Wie du sehen kannst, ist unter anderem Sudans Nachbarland Tschad (Englisch: Chad) von Vertreibungen aufgrund von Naturkatastrophen betroffen. Viele Sudanes:innen suchen Zuflucht in diesem Nachbarland. Doch auch im Sudan führten starke Regenfälle und Überschwemmungen im Sommer 2024 zu Vertreibungen, betroffen waren 15 Bundesstaaten.
Screenshot Global Report on Internal Displacement
Geflüchtete außerhalb der Landesgrenzen: meist in Nachbarländern mit geringen Ressourcen
Außerhalb des Sudans suchen nach Zahlen von UNHCR (Stand Ende Juni 2025) mehr als vier Millionen Menschen Zuflucht. Viele von ihnen fliehen ins benachbarte Ägypten (37%), aber auch in den Tschad (27%), in den Südsudan (28%) oder nach Uganda. Seit der Implementierung eines neuen Asylgesetzes in Ägypten im letzten Jahr und drohenden Abschiebungen ziehen manche Vertriebene weiter nach Libyen, um von dort aus nach Europa zu gelangen.
Screenshot IOM
Das UNHCR spricht von größtenteils traumatisierten Frauen und Kindern, die am Beispiel des Nachbarlandes Tschad in angrenzende Länder flüchten. Auswertungen zufolge haben schätzungsweise mehr als 75 Prozent der neu ankommenden Schutzsuchenden im Tschad Misshandlungen wie sexuelle Gewalt, Erpressung und Raub überlebt. Doch im Tschad sind die Ressourcen selbst knapp. Bereits 1,3 Millionen Flüchtlinge hat das Land aufgenommen.
Die Rolle der EU und Deutschlands
Um besser verstehen zu können, wie Deutschland und die EU bereits den Konflikt im Sudan beeinflusst haben, kommen wir noch einmal auf eine der Konfliktparteien zurück: die paramilitärische Miliz RSF. Bereits Omar al Baschir (der ehemalige Langzeit-Präsident und Diktator Sudans) setzte die RSF zum Schutz der Grenzen, zur Bekämpfung von Aufständischen, für Söldnerdienste im Jemen und zur Sicherung des Regimes ein.
Und genau dieser Grenzschutz ist für die EU ebenfalls besonders wichtig. Es ist nichts Neues, dass die EU in Sachen Migration eine Externalisierungspolitik führt. Das bedeutet ganz einfach, dass sie schmutzige Deals mit anderen Ländern abschließt, die dann für die EU dafür sorgen sollen, dass wenig bis keine Migrant:innen überhaupt erst nach Europa gelangen. Festung Europa par excellence. 2015 schloss die EU im Rahmen des sogenannten „Khartoum Process” (unterzeichnet von 49 Ländern) unter anderem ein Grenzschutz-Abkommen mit dem damaligen Diktator al-Baschir. Der Sudan liegt nämlich als Schlüsselpunkt auf dem Weg von vielen Migrant:innen aus beispielsweise Eritrea, Somalia und Äthiopien nach Europa. Sie sollen schon früh auf ihrer Route aufgehalten werden. Schon vor der Revolution unterstützte die EU also die RSF-Miliz, obwohl dieser seit jeher Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Auch nach der Revolution wurde das Grenzschutz-Abkommen Aktivisten zufolge weitergeführt.
Du siehst: Die RSF wird schon seit Langem von Deutschland und der EU unterstützt – weil sie die „Festung Europa“ aufrechterhalten soll. Der RSF-Anführer hat schon vor der Revolution wiederholt bekannt gegeben, dass er “die Arbeit der EU“ machen würde und prahlte mit Zahlen von festgenommenen und abgeschobenen Migrant:innen.
Warum niemand darüber spricht
Wenn du dich jetzt berechtigterweise fragst, warum über den Bürgerkrieg im Sudan, die immense Versorgungs- und Vertreibungskrise und die Rolle der EU in der ganzen Sache kaum berichtet wird, ist die Antwort gleichermaßen kalt und nüchtern. Solange Flüchtlinge aus dem Sudan nicht in großem Stil in Deutschland ankommen, interessiert es viele Menschen und den Großteil der Politiker:innen hier nicht. In Deutschland leben rund 20.000 Personen mit sudanesischem Migrationshintergrund, davon 12.300 Personen mit sudanesischer Staatsangehörigkeit (Stand 31.12.2023). Die meisten Personen mit sudanesischem Migrationshintergrund leben in Niedersachsen (ca. 9.000). Wie viele sudanesische Asylbewerber:innen in Europa seit Beginn des Bürgerkriegs ankamen, kannst du in dieser Grafik sehen:
Quelle: Eurostat und Mediendienst Integration
Dass fast keine Vertriebenen aus dem Sudan bei uns ankommen, liegt an verschiedenen Faktoren. Zum einen sind da die geografische Distanz und die geringen Ressourcen von Vertriebenen, die Flucht nach Europa zu bezahlen. Zum anderen gibt es kaum legale Fluchtmöglichkeiten. Eine Ausnahme gab es beispielsweise noch unter der letzten Bundesregierung. Ende April landete ein Flugzeug mit besonders Schutzbedürftigen, größtenteils aus dem Sudan, in Deutschland. Sie wurden vom UNHCR-Resettlement-Programm vorgeschlagen.
Doch genau über dieses Programm und weitere legale Fluchtprogramme möchte die CDU/SPD-Bundesregierung keine Flüchtlinge mehr aufnehmen. Ein weiterer geplanter Flug mit 190 sudanesischen Flüchtlingen wurde Anfang Mai abgesagt, offenbar nach einem Gespräch zwischen der ehemaligen Innenministerin Faeser und ihrem Nachfolger Dobrindt. Legale Fluchtwege zu streichen, ist nur eines der vielen fatalen Bausteine der restriktiven Migrationspolitik unter Merz:
Sondierungsgespräche: Merz will “irreguläre” Migration fördern
Auch das autoritäre Regime in Ägypten wird von der EU finanziell unterstützt, um Migrant:innen von der Überfahrt über das Mittelmeer abzuhalten. Deutlich vor Augen führt diese ARD-Dokumentation, wie tödlich die EU-Flüchtlingspolitik ist.
Leid nicht gegen Leid aufwiegen
Die Vertreibungskrise im Sudan und alle damit zusammenhängenden Faktoren haben eigentlich eine derartige Brisanz, dass darüber viel häufiger berichtet und gesprochen werden sollte. Die EU und auch unsere Regierung sind involviert. Doch Geschichten werden häufig einfach nur dann aufgegriffen, wenn es irgendjemandem nutzt, dass wir darüber reden. Da aber fast keine sudanesischen Geflüchteten Deutschland erreichen, interessiert es die breite Öffentlichkeit nicht. Die nach wie vor dramatische humanitäre Lage vor Ort bleibt so einfach außen vor. Und es handelt sich um die weltweit größte Migrationskrise. Und die meisten bekommen davon nicht mal mit?
Natürlich hast du Recht, wenn du jetzt sagst, dass unsere Fähigkeit, Empathie zu empfinden, bei den vielen, anhaltenden Multikrisen auf der Welt nachlässt. Nicht nur die Krise im Sudan ist eine der “vergessenen Krisen“ der Welt. Doch genauso ist es Fakt, dass Leid sehr selektiv ausgewählt und oft nur darüber berichtet wird, wenn es in die Narrative passt.
Gleichzeitig sollten wir Leid nicht gegen Leid aufwiegen. Das Bedürfnis des menschlichen Gehirns, Dinge zu “ranken”, in Listen und Kategorien einzusortieren, wird dem tatsächlichen Ausmaß menschlichen Leids einfach nicht gerecht. Jedes zerstörte Menschenleben ist eins zu viel. Dieser Text ist auch dazu da, um genau darauf hinzuweisen.
Was du tun kannst
Wenn Politiker:innen hierzulande von vermeintlichen „Migrationskrisen“ sprechen, dann manipulieren sie nicht nur mit rechtspopulistischer Rhetorik, sie lassen sie ganz bewusst außer Acht, dass sich die wahren Migrationskrisen in Teilen der Welt abspielen, die vom „Westen“ allzu gerne einfach ignoriert werden. Weltweit finden über zwei Drittel aller Flüchtlinge Zuflucht in einem Nachbarland. Dabei leben 73 Prozent in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen. Rund 23 Prozent der Geflüchteten befinden sich sogar in einigen der ärmsten Staaten der Welt. Zudem bleiben etwa 60 Prozent der gewaltsam Vertriebenen innerhalb der Grenzen ihres Herkunftslandes und suchen dort Schutz. Nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Geflüchteten gelangt überhaupt nach Europa.
Wenn du die Möglichkeit hast zu spenden, dann verlinken wir hier das Spendenkonto, das die ARD eingerichtet hat:
Screenshot Tagesschau
Auch über die UNO Flüchtlingshilfe kann gespendet werden. Wenn du nicht spenden kannst oder möchtest, dann teile doch gerne diesen Artikel und hilf mit, dass er mehr Reichweite bekommt. Und sei skeptisch, wenn jemand Krisen nur erwähnt, um sie politisch zu instrumentalisieren – oder um andere Krisen zu relativieren.
Artikelbild: Caitlin Kelly/AP/dpa
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