„Der politische Antisemitismus ist zurück“: Wie Antisemitismus linke, rechte und islamistische Gruppen verbindet
Belltower.News
Auf einer Anti-Israeldemo in Berlin streamt auch Sebastian Schmidtke, stellvertretender Parteivorsitzender der Heimat (früher NPD) (Quelle: RechercheNetzwerk.Berlin)Der Politikwissenschaftler Dr. Lars Rensmann, Professor für Vergleichende Regierungslehre an der Universität Passau, spricht mit uns über die Rückkehr des politischen Antisemitismus und wie islamistischer Antisemitismus als Brückenideologie zwischen sonst sehr unterschiedlichen politischen Lagern fungiert. Warum er von einer Rückkehr des politischen Antisemitismus spricht, erklärt er in seinem neuen Buch „Politischer Antisemitismus im postfaktischen Zeitalter – Formen und Ursachen in Demokratien des 21. Jahrhunderts” (Baden-Baden: Nomos Verlag, 2025).
Belltower.News: Es gibt viele Bücher über Antisemitismus. Was ist das Besondere an Politischer Antisemitismus im postfaktischen Zeitalter?
Lars Rensmann: Ich stelle den Begriff des „politischen Antisemitismus“ wieder ins Zentrum der Analyse, der historisch auf die moderne Epoche des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zurückgeht, in der antisemitische Massenparteien und Bewegungen Judenfeindschaft mobilisierten. Antisemitismus spielte im politischen Diskurs damals eine zentrale Rolle. Nach 1945 und der Shoah war politischer Antisemitismus in den Demokratien weitgehend diskreditiert und aus der politischen Sphäre verdrängt. Die zentrale These des Buches ist nun, dass wir im 21. Jahrhundert eine neue Phase erleben: Der politische Antisemitismus ist wieder da. Er ist mit einer neuen Wucht in den politischen Diskurs zurückgekehrt und wird von unterschiedlichen Akteuren wieder offen oder indirekt als Mittel politischer Mobilisierung genutzt. Antisemitismus wird zunehmend wieder selbst als Mobilisierungsfaktor eingesetzt, was, trotz wiederkehrender antisemitischer Erscheinungsformen und Ereignisse auch in den Demokratien des 20. Jahrhunderts, bis zum Beginn dieses Jahrtausends kaum der Fall war.
Ist Antisemitismus nicht immer politisch?
Nein. Antisemitismus ist nicht per se politisch, sondern zunächst eine gesellschaftliche Ideologie, die in unterschiedlichen Formen und Kontexten auftreten kann. Politisch wird er, wenn er von Akteuren wie Parteien, Bewegungen, Regierungen aufgegriffen und gezielt in den politischen Diskurs eingebracht wird, von politischen Akteuren mobilisiert wird oder dazu eingespannt, um politische Ziele zu verfolgen.
Wieso erleben wir gerade jetzt diese Rückkehr des politischen Antisemitismus?
Wir leben in Zeiten von Polykrisen und beobachten einen globalen Aufstieg autoritärer Akteure. Antisemitische Weltdeutungen haben in Krisenzeiten und im Kontext von Krisennarrativen nicht zufällig Konjunktur, das zeigt die moderne Geschichte. Gleiches gilt für Verschwörungsmythen, von denen es zum Antisemitismus stets nur ein kleiner Schritt ist. Mit dem Aufstieg autoritärer Akteure auch in liberalen Demokratien geht eine diskursive Grenzüberschreitung nach der anderen einher. Die Grenzen des Sagbaren verschieben sich seit geraumer Zeit, nicht nur, aber insbesondere im Bereich des Antisemitismus. Hinzu kommt im 21. Jahrhundert der digitale Strukturwandel der Öffentlichkeit: Jetzt filtern wesentlich intransparente Algorithmen von Big-Tech-Konzernen die öffentliche Kommunikation statt einer durch journalistische Standards und Presserecht gefilterten Öffentlichkeit. Und die neue sozial-mediale Aufmerksamkeitsökonomie profitiert materiell von Hate Speech, affektiver Polarisierung, Provokation und Desinformation. Dies stärkt nicht zuletzt antisemitische Grenzüberschreitungen und immer noch virulente, weit verbreitete judenfeindliche Fantasien. In einem postfaktischen Zeitalter, in dem Demokratien nicht nur auf sozialen Medien von Desinformation überschwemmt werden und in dem die Grenzen zwischen Lügen und Wahrheiten weitgehend destabilisiert worden sind, floriert auch die postfaktische Wahnwelt des Antisemitismus. Denn Antisemitismus sind die Fake News sui generis, also einzigartige, ja die ursprünglichen Fake News, welche seit dem Frühchristentum immer wieder Verbreitung finden und aktualisiert werden.
Sie unterscheiden zwischen rechtem, linkem und islamistischem Antisemitismus. Inwiefern zeigt sich der rechte Antisemitismus, wie sie schreiben, als „globale antisemitische Revolte“?
Antisemitismus war in Autokratien auch nach 1945 häufig Teil staatlicher Propaganda, etwa in der Sowjetunion oder dem Iran, aber auch in Staaten wie Malaysia, wo seit langem de facto keine Jüdinnen*Juden mehr leben. Im 21. Jahrhundert ist nun auffällig, dass sich politischer Antisemitismus zunehmend auch in westlichen liberalen Demokratien zeigt. Ich argumentiere, dass gerade politischer Antisemitismus eng mit autoritärem Denken verbunden ist. Autoritarismus korreliert mit verschiedenen Abwertungs- und Feindbildideologien wie Sexismus und Rassismus, mit Ethnozentrismus und Nationalismus, mit manichäischem Denken, insbesondere aber auch mit antisemitischen Verschwörungs-, Erlösungs- und Gewaltfantasien. Dass die derzeitige globale autoritäre Revolte auch eine antisemitische ist, ist historisch und empirisch kein Zufall. Rechtsradikale, rechtspopulistische und andere antidemokratische Bewegungen und Parteien, darunter auch linksautoritäre, tragen den Antisemitismus strukturell in sich, und dies nicht erst im gegenwärtigen Zeitalter. Antisemitismus ist vielmehr ein Signum von autoritären Parteien und Bewegungen der Moderne.
Aber wird nicht immer wieder behauptet, Rechte stünden an der Seite Israels? Wie können sie da antisemitisch sein?
Die Behauptung, die radikale Rechte sei pro-israelisch, steht im Widerspruch zur empirischen Forschung. Dennoch hält sich jene Wahrnehmung hartnäckig im öffentlichen Raum. Je extremer rechtsradikale Bewegungen und Parteien sind, desto konturierter treten Antisemitismus und auch israelbezogene Judenfeindschaft hervor. In der AfD gibt es zwar selbstbezügliche, selektiv positive Israel-Bezüge, wenn es um den Umgang mit muslimisch markierten Menschen geht. Doch insgesamt dominieren auch hier antiisraelische und antisemitische Positionen. Die AfD-Bundespartei etwa postete u.a. im Sinne der antisemitischen und rassistischen Vorstellung vom „Großen Bevölkerungsaustausch” die frei erfundene Erzählung, Israel wolle „Germoney” dazu erpressen, Flüchtlinge aufzunehmen. Ähnliche antisemitische und israelfeindliche Tendenzen finden sich in vielen anderen rechtsradikalen Parteien Europas. Insofern pro-israelische Haltungen überhaupt reklamiert werden, werden sie, wie etwa bei der Fidesz in Ungarn, die ein verschwörungsideologisch begründetes „Stop Soros”-Gesetz verabschiedet hat, durch massiven, teils offenen, teils getarnten Antisemitismus überlagert. Besonders systemfeindliche rechtsradikale Akteure in Deutschland, Europa oder Nordamerika, die rechts von der AfD oder dem Rassemblement National in Frankreich operieren, sind meist noch offener antisemitisch und dezidiert antizionistisch. Man denke hier etwa an Die Rechte mit ihrer Parole „Israel ist unser Unglück” oder den III.Weg, der gegen den „Terrorstaat Israel” agitiert. Aber auch ein extrem populärer Demagoge wie Tucker Carlson, der Trumps MAGA-Bewegung nahe steht, verbreitet offenen Antisemitismus und antiisraelische Weltverschwörungsideologien.
Seit dem 7. Oktober zeigt sich auch ein wachsender linker Antisemitismus. Ihr Kapitel dazu heißt „Identität und Erlösung“. Warum?
Teile der globalen Linken neigen seit Langem zu autoritären, manichäischen Deutungsmustern im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts. Komplexe politische Realitäten werden vereinfacht: Israel wird dämonisiert und nicht nur für jegliche Gewalt im Nahen Osten in Haftung genommen, sondern erscheint auch als das absolut Böse. Das Motto ‚It’s not complicated‘, das in vielen Teilen der globalen Linken Resonanz findet, steht für eine regressive autoritäre Weltsicht, die durch identitätsstiftendes und dichotomes Denken aufrechterhalten wird und de facto offen auf die Vertreibung und Ermordung von israelischen Juden zielt.
Das zeigt sich auch in der Idealisierung der Hamas zur Widerstandsbewegung und progressiven Kraft in Teilen der radikalen Linken. Ignoriert oder abgestritten wird nicht nur der Antisemitismus der Hamas, sondern auch die massiven Proteste in Gaza gegen die autoritäre Terrorgruppe passen nicht ins binäre Weltbild. Mithin wird die Vernichtung Israels als Voraussetzung für die Befreiung der Menschheit gesehen: „Palestine will set us all free” heißt es auf Demos, und populäre postkoloniale Ideologen wie Ramón Grosfoguel flankieren diese entfesselte antisemitische Erlösungsfantasie mit der Behauptung, die „Achse des Widerstandes” und „der palästinensische Sieg” würden „die Menschheit auf eine neue Bewusstseinsebene” heben. Leider hat sich der Antisemitismus in diesem autoritären Zeitalter des Irrationalismus nach den Massakern des 7. Oktober und in seiner Folge auch in linken, vom Selbstverständnis her progressiven Bewegungen weiter radikalisiert, und er wird teils auch von linken Parteien vertreten, zugelassen oder gefördert und nur selten bekämpft.
In einem anderen Kapitel widmen Sie sich dem islamistischen Antisemitismus. Ist der nicht eigentlich Teil der rechten Revolte?
Falsch ist es nicht, den Islamismus als Variante einer rechtsradikalen Revolution zu sehen. Aber islamistischer Antisemitismus ist zugleich eine eigenständige, politisierte Ideologie und mit religiösen Motiven unterfütterte Weltdeutung, die weltweit wirksam ist und auch eine eigenständige Analyse rechtfertigt. Antisemitismus ist im Islamismus nicht bloß ein Randphänomen, sondern zentraler Bestandteil der Ideologie. In einer globalisierten Welt wirken diese Positionen weit über einzelne Länder hinaus, was sich auch in öffentlichen Mobilisierungen in Demokratien beobachten lässt. Diese Formen des Antisemitismus sind tief in einer politisierten Interpretation des Islam verankert. Brisant ist zudem, dass islamistischer Antisemitismus als verbindendes Element zwischen sonst sehr unterschiedlichen politischen Lagern fungieren kann. So beziehen sich sowohl Teile der extremen Rechten als auch der radikalen Linken positiv auf den radikalen Islamismus, etwa bei dessen Rechtfertigung antiisraelischer Hassrede und Gewalt. Etliche rechtsradikale Akteure und Bewegungen schätzen den „politischen Islam” teils als konservative Kraft, die für eine binäre Geschlechterordnung eintritt – und eben als Bündnispartner gegen Israel.
Auch in Teilen der radikalen Linken funktioniert insbesondere israelbezogener Antisemitismus als Brückenideologie, die bisweilen Allianzen mit Islamisten rechtfertigt. Das geht eben soweit, dass Teile der globalen Linken autoritäre islamistische Bewegungen wie die Hamas oder das islamistische Terrorregime im Iran verharmlosen oder gar glorifizieren. Das sind Gruppen, die alle linken und emanzipatorischen Grundwerte verraten, wie Egalitarismus, Demokratie, Gleichberechtigung, Feminismus, Antirassismus oder LGBTQ+-Rechte.
Die Einteilung rechts, links, Islamismus wirkt, als ginge es nur um den Antisemitismus an den gesellschaftlichen Rändern. Das weckt Assoziationen zur viel kritisierten Hufeisentheorie.
Die unreflektierte Extremismustheorie mit ihrem Hufeisenmodell kritisiere ich seit Jahrzehnten, u.a. in einem Aufsatz mit Christoph Kopke, und dabei bleibe ich. Mein Fokus liegt auf politischen Ideologien und ihrer gesellschaftlichen Wirkungsmacht. Mein theoretischer Ansatzpunkt ist dabei auch in diesem Buch der gesellschaftliche Autoritarismus, nicht die unterkomplexe und teils selbst ideologisierte Hufeisentheorie, welche eine fiktive Mitte a priori idealisiert. Die Kritik, die ich seit Langem an der Hufeisentheorie formuliere, ist, dass sie auf einem dubiosen Normalitätsbegriff beruht. In meinem Buch geht es auch keinesfalls nur um gesellschaftliche Ränder. In den Kapiteln zur radikalen Rechten oder zur radikalen Linken analysiere ich immer auch, wie sich politisch-kulturelle Gelegenheitsstrukturen verändert haben, welches politische Verhalten normalisiert wird und welche Bedingungen, einschließlich des Verhaltens von Institutionen oder demokratisch-pluralistischen Parteien, Entwicklungen fördern oder einschränken. Digitale Öffentlichkeiten, neue mediale Bedingungen und diskursive Verschiebungen haben Antisemitismus in vielen Ländern legitimiert. Besonders bedeutsam ist indes die globale radikale Rechte als politischer Akteur. Sie ist heute in den meisten Demokratien entweder eine zentrale Oppositionskraft oder gar Regierungspartei, wie etwa in den USA unter Trump oder in Ungarn unter Orbán. Tatsächlich verwischen die Grenzen zwischen Rechtsradikalismus und politischer Mitte zunehmend. Das zeigt der Blick in die USA, wo rechtsradikale Positionen und antisemitische Verschwörungsideologie bereits Teil der politischen Mitte geworden sind.
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