„Ketzer der Neuzeit“: Extrem rechter Influencer und Missionar
Leonard Jäger auf seinem YouTube-Kanal mit eigenem Merch.
(Quelle: Screenshot YouTube)
Mal lesend, mit einer Bibel auf der Couch, mal im provozierenden Gespräch mit jungen queeren Menschen, mal beim Sport – es gibt viele Inszenierungen des jungen blonden Mannes, der Leonard Jäger heißt. Unter dem Namen „Ketzer der Neuzeit“ folgen dem Berliner auf Instagram knapp 250.000 Menschen, auf YouTube mehr als eine halbe Million. Er ist ein extrem rechter Influencer der Gen-Z, einer der einflussreichsten und scheinbar best-vernetzten.
Seine Inhalte sind eine Mischung aus denen des frühen Martin Sellner, als er noch Kopf der rechtsextremen Identitären Bewegung war, und dem des Neonazi-Aktivisten Nikolai Nerling, dem „Volkslehrer“, der sich mittlerweile aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat. Jedoch – und das ist das Neue an Jäger – versucht er nicht nur, wie Nerling und Sellner, rechtsextreme Ideologie salonfähig zu machen und marginalisierte Menschen abzuwerten, er will Menschen missionieren, sie „von der reinen Lehre der Bibel“ überzeugen. Kein Wunder also, dass die Hetze und Verächtlichmachung sich besonders gegen queere Menschen und deren Lebensweisen richtet.
Eine schrecklich rechte Familie?
Laut seiner Website ist der Kindermusiker Ulf Erdmann sein Vater. Seine Mutter ist eine ehemalige Berliner Staatsanwältin. Am 29. August 2020 durchbrach sie gemeinsam mit ihrem Sohn und weiteren Verschwörungsgläubigen und Rechtsextremen eine Polizeikette in der Berliner Friedrichstraße, wie der Tagesspiegel berichtete. Wie die Zeitung weiterschreibt, verglich sie die damaligen Corona-Maßnahmen mit der Zeit des Nationalsozialismus. Wegen eines „uneinsichtigen“ Verhaltens am Rande einer Querdenken-Demonstration, ein Jahr später, stand sie vor Gericht.
Begonnen hat Jäger mit seinen tendenziösen Videos während der Covid-Pandemie, Mitte 2020. Ob die Pandemie, wie bei so vielen Menschen, der Auslöser für seine Radikalisierung war, ist nicht eindeutig zu beantworten. Er selber gibt in einem Interview an, „mit 14, 15 selber mal bei der Antifa“ gewesen zu sein, um Antworten auf gesellschaftliche Fragen zu finden. Möglicherweise waren diese Antworten aber zu komplex. Verschwörungserzählung liefern stattdessen einfache Antworten: Eine Dichotomie von Gut vs. Böse, am Ende steht oft rechtsextreme Ideologie.
Im YouTube-Profil von „Ketzer der Neuzeit“ schreibt Jäger als Selbstbezeichnung: „Ketzer – jemand, der öffentlich eine andere als die in bestimmten Angelegenheiten für gültig erklärte Meinung vertritt.“ Und genauso scheint sich auch Jäger zu sehen, als ein Rebell gegen „das System“, der selber Verschwörungsmythen verbreitet und Hass auf marginalisierte Gruppen schürt. In letzter Zeit kam jedoch in Jägers Ideologie-Baukasten ein neues Element hinzu: Das Christentum.
Die Bibel wird wörtlich ausgelegt
2024 wurde Leonard Jäger von Deutschlands einflussreichsten evangelikalen Influencerin, Jasmin Neubauer („Liebe zur Bibel“), im strahlend blauen Meer Costa Ricas getauft, wie die Evangelische Zeitung berichtet. Dabei sei er erst vor einigen Jahren gläubiger Christ geworden. Wörtlich sagte Jäger in einem Interview: „Christus ist das Allerwichtigste und die Politik ist am Ende eine Spannung zwischen Schall und Rauch. Das kann nicht die Welt verändern, so wie sich das viele erhoffen.“ Politik sei letztlich vergänglich. Offen sagt er, dass er durch seine Social-Media-Reichweite Menschen, die seine politischen Inhalte teilen, zum Christentum missionieren möchte. Ihm geht es also nicht in erster Linie darum, die politische Landschaft zu verändern und die Grenzen des Sagbaren und Machbaren zu verschieben, sondern darum, christlichen Fundamentalismus zu etablieren.
Dabei pflegt er offenbar eine enge Verbindung zur Christfluencerin Jasmin Neubauer. Gemeinsam betreiben sie ein Kleidungslabel – mit christlichen Aufdrucken auf den Shirts. Evangelikale der Freikirchen, wie Jäger und Neubauer, legen die Bibel wörtlich aus. Die in Deutschland weitgehend anerkannte Lehrmeinung besagt, dass die Bibel historisch-kritisch ausgelegt werden sollte. Das bedeutet, dass die Texte im historischen Kontext ihrer Entstehung betrachtet werden müssen und nicht unverändert auf die heutige Zeit übertragbar sind.
Jasmin Neubauer (r.) und Leonard Jäger(l.)Das Ziel: Ein bürokratisch agierender christlicher Gottesstaat.
In einer scheinbar immer komplexer werdenden Welt geben radikale Evangelikale einfache Antworten. Religiöse Fundamentalist*innen legen einen starken Fokus auf das Thema Familie und Geschlecht. So entsteht eine ideologische Nähe zu rechtsextremen und nationalistischen Aktivist*innen und Parteien, wie etwa zur AfD. Der Partei, der am ehesten zugetraut wird, rückständige Vorstellungen in Bezug auf traditionelle Familien- und Geschlechterbilder umzusetzen.
Radikalisierte Evangelikale sind ein globales Phänomen, sie sind jedoch sehr stark in den USA verankert. Diese weltweit umtriebigen Bewegungen mobilisieren hauptsächlich mit den Themen Abtreibung, Anti-Gender und Anti-Wokeness. In den USA lässt sich gut beobachten, dass das Ziel dieser Bewegungen weit über den Glauben hinausgeht, hin zu einem bürokratisch agierenden christlichen Gottesstaat. Von Gläubigen wird diese Vision des Evangeliums auch nach Europa getragen. Und auch Jäger scheint hier seine Aufgabe zu sehen. In entsprechende US-Kreise scheint er bestens vernetzt zu sein.
Die Heritage Foundation
Im zweiten Kabinett von US-Präsident Donald Trump finden sich nicht wenige radikale christliche Nationalist*innen. Einige davon haben am „Project 2025“ der Heritage Foundation mitgeschrieben – einem Plan zur dauerhaften Umgestaltung der Exekutive der USA. Hier wird beschrieben, wie die Macht des Präsidenten massiv ausgeweitet werden kann. Die Heritage Foundation tritt im Moment äußerst offensiv auf – auch in Europa. „Sie haben nun ihre Aktivitäten verstärkt und wollen ihre Ideologie exportieren“, sagt E.J. Fagan, Politologe an der University of Illinois, der zu Thinktanks, Agenda Setting und Lobbyismus forscht, gegenüber Correctiv. „Das sind wahre Gläubige, und sie wollen, dass die ganze Welt ihre Version des ultra-rechten Konservativismus übernimmt.“ Auch Jäger scheint Kontakte zur Heritage Foundation zu haben.
Jäger und AfD-Personal zu Gast in der Heritage Foundation
Leonard Jäger bei der Amtseinführung von Donald Trump, gemeinsam mit Steve Bannon und Influencer-Kumpel Beat. (Screenshot)Nur wenige Stunden nach dem erneuten Wahlsieg Donald Trumps 2024 schüttelte Jäger schon die Hand des künftigen Präsidenten und posierte mit ihm für ein Foto in Mar-a-Lago. Auch zur Amtseinführung Trumps flog Jäger abermals in die USA, gemeinsam mit einem weiteren christlichen Influencer. Sie treffen hier bei einem Politik-Frühstück unter anderem auf die ebenfalls extrem konservative Christin und AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch, den rechtsextremen MAGA-Strategen Steve Bannon und den Sohn des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro. Später beobachten sie die Inauguration gemeinsam mit dem rheinland-pfälzischen AfD-Abgeordneten Damian Lohr, der bis 2021 Vorsitzender der rechtsextremen JA war und dem mittlerweile in den Bundestag gewählten AfD-Mann Jan Wenzel Schmidt, der den gewalttätigen Rechtsextremen Mario Müller beschäftigt. Die Männer sitzen gemeinsam an einem Tisch in einem Gebäude der Heritage Foundation.
Auf einem Parteitag der AfD Anfang des Jahres konnte Jäger die damalige Kanzlerkandidatin Alice Weidel interviewen. Er sprach mit ihr über ihren Glauben, versichert ihr, „dass ganz viele Christen hinter“ ihr stehen würden und spricht ihr „Gottessegen“ aus. Zum Schluss lädt er sie noch zu einem gemeinsamen Gespräch mit der christlichen Influencer Jasmin Neubauer ein.