Solingen: Wie eine rassistische Anschlagsserie zur entpolitisierten Einzeltat erklärt wird

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(Quelle: picture alliance / epd-bild | Uwe Moeller (Möller))

Am 25. März 2024, setz Daniel S. ein Wohnhaus in Solingen in Brand. In dem Feuer stirbt das türkisch-bulgarisch stämmige Ehepaar, Kancho Emilov Zhilov und Katya Todorovo Zhilova und ihre beiden Töchter, Galia Kancheva Zhilova (drei Jahre) und Emily Kancheva Zhilova (ein Jahr). 21 weitere Bewohner*innen mit Migrationsgeschichte erleiden zum Teil schwere Verletzungen.

Nach dem Anschlag mit vier Toten im März 2024 erinnen sich viele Menschen an den rassistischen und rechtsextremen Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç 1993, bei dem fünf Menschen das Leben verloren. Doch schon kurz nach der Brandstiftung mit vier Toten 2024 erklärte die Staatsanwaltschaft Wuppertal: „Anhaltspunkte, die auf ein fremdenfeindliches Motiv deuten, liegen nicht vor.“ Auch die Polizei spricht kurz danach davon, dass der Fall weitgehend aufgeklärt sei und zeigt sich erleichtert. 

Eine gravierende Fehleinschätzung, wie sich herausstellen wird. Nach neuesten Erkenntnissen müssen sich Ermittlungsbehörden und Justiz die Frage stellen, ob sie die vier Leben hätten retten können, wenn sie in einem früheren Brandfall, der ebenfalls ein durch Migrant*innen geprägtes Haus traf, besser ermittelt hätten.

Der Prozess

Im Januar 2025 beginnt der Prozess gegen den Tatverdächtigen, Daniel S., vor dem Wuppertaler Landgericht. Der Angeklagte muss sich wegen drei Brandstiftungen in Solingen, am 9. November 2022, am 16. Februar 2024 und am 25. März 2024 und wegen eines Macheten-Angriffs auf einen Freund verantworten. Die Beweislage ist erdrückend. Bei allen Taten konnte DNA nachgewiesen werden, sodass der Angeklagte sich auf alle Anklagepunkte einlässt. 

Vermerk über rechtsextremen Hintergrund handschriftlich gestrichen 

Laut der Ermittlungsakten berichtete ein Zeuge des Macheten-Angriffs, dass der Täter „Sieg Heil“ gerufen haben soll. Im derzeit laufenden Prozess gegen Daniel S. wird der Zeuge jedoch nicht vorgeladen. Generell spielt das politische Motiv im Prozess lange keine Rolle. 

Zu Beginn der Ermittlungen bestand tatsächlich ein Verdacht auf eine rechtsextreme Motivation. Festgehalten wurde dies in einem Vermerk aus dem April 2024 in den Ermittlungsakten. In einem Einsatzbericht einer jungen Polizeibeamtin, die an der Hausdurchsuchung teilgenommen hatte, war zunächst vermerkt worden, dass sich Hinweise auf eine rechte Motivation des Täters ergäben. Die Beamtin hatte entsprechendes Material vor Ort gesichtet und dies als Hinweis gewertet. Ihr Vermerk wurde dokumentiert und an den Staatsschutz weitergeleitet, mit der Bitte um Einschätzung. 

Doch anstatt einer formellen Bewertung wurde der Hinweis später schlicht handschriftlich durchgestrichen. Wer genau dies veranlasste, blieb zunächst unklar. Erst im Laufe der Hauptverhandlung kommt der Vorgang durch die Nebenklage zur Sprache, die darin ein gravierendes Versäumnis sieht. Nach Aussagen beteiligter Beamter erfolgte die Streichung durch den Staatsschutz mit der Begründung, die Polizistin habe nur wenig Berufserfahrung und ihre Einschätzung voreilig vorgenommen – ohne zuvor eine übergeordnete Bewertung einzuholen. Ein behördliches Vorgehen, das Fragen aufwirft – nicht nur zur internen Kommunikation, sondern auch zum Umgang mit möglichen Hinweisen auf ein rechtes Tatmotiv.

Da die Staatsanwaltschaft den Angaben des Angeklagten folgt, er habe den Brand aus Wut über seinen Vermieter gelegt, wird ein politisches Motiv lange ausgeklammert und so wurde ursprünglich ein Urteil für März 2025 erwartet. Doch dann werden weitere Verhandlungstage eingeräumt.

Auswertung der digitalen Daten: Nazi-Propaganda

Der Grund: Nebenklagevertreterin Seda Başay-Yıldız hatte mehrfach auf die in der Wohnung des Täters gefundenen USB-Festplatten, Endgeräte und Laptops hingewiesen, die bis dahin nicht gesichtet worden waren. Auf den Festplatten, die sowohl Daniel S. als auch seine Partnerin nutzen, wurden 166 Bilder gefunden, die stark an einem unpolitischen Motiv zweifeln lassen. Die Bilder zeigen Nazi-Propaganda und grausame, entmenschlichende Bilder. 

Das : Gasflaschen mit dem Konterfei Adolf Hitlers, mit dem Zusatz: „Dafür stehe ich mit meinem Namen“. Ein Foto von Hitler mit der Bildunterschrift: „Ohne dich ist alles doof“. Eine Aufnahme von Gefangenen in einem Konzentrationslager: „Bitte konzentriert euch“. Oder auch: ein Schlauchboot mit Geflüchteten. Bildunterschrift: „Mein Humor ist wie ein afrikanischer Flüchtling. Er kommt manchmal nicht gut an.“ Diese Bilder sind grausam, rassistisch, menschenverachtend und rechtsextrem. Dass diese beschlagnahmten Dateien ausgewertet wurden und Gegenstand der Verhandlung sind, geht allein auf Anträge der Nebenklageanwältin zurück, nicht etwa auf die Ermittler*innen selbst oder die Staatsanwaltschaft. Allerdings wurden die Datenträger sowohl vom Tatverdächtigen als auch von seiner Partnerin genutzt, weshalb sich die entsprechenden Dateien nicht zweifelsfrei zuordnen lassen. 

„Lied eines Asylsuchenden“: NS-Propaganda spielte zunächst keine Rolle

Bei der Durchsicht von Fotos, die während der Hausdurchsuchung im Wohnhaus von Daniel S. aufgenommen wurden, stößt Başay-Yıldız auf das Propagandabuch „Olympia 1936“ sowie auf ein volksverhetzendes Gedicht mit dem Titel „Lied eines Asylsuchenden“, das an der Garagenwand befestigt war. Diese Funde macht sie nur, weil sie sämtliche Aufnahmen mit einer Lupe genau untersucht.

Später legt die Polizei weiteres Bildmaterial vor, das während der Durchsuchung entstand – darunter Aufnahmen von Adolf Hitlers Mein Kampf, Büchern über die Wehrmacht, Hitlers Reden, Görings Notizen von 1935 sowie Christbaumkugeln mit Hakenkreuzen. All diese Gegenstände wurden im Wohnhaus sichergestellt und von den Ermittler*innen dokumentiert. Aber warum findet sich davon kein Wort in den Ermittlungsakten?

Vielleicht, weil die Wohnung, in der etwa die NS-Bücher gefunden wurden, bislang offiziell dem Vater des Täters zugeordnet und als „nicht bewohnt“ eingestuft wurde. Daher werden sämtliche dort gefundenen NS-Materialien dem Vater zugeordnet. Und bisher weigert sich die Staatsanwaltschaft, die Wohnsituation von Daniel S. mithilfe der Jobcenter-Akten zu prüfen. Zugleich werden bei der Durchsuchung auch Cannabispflanzen gefunden, welche die Polizei aber eindeutig dem Täter zuschreibt. Auch für diese Diskrepanz gibt es keine Erklärung seitens der Behörden.

Dorfdisko Ausländer raus“

In den Daten aus der Google-Cloud des Täters stößt die Nebenklageanwältin auf weitere extrem rechte Inhalte. Darunter unter anderem Videos des rechtsextremen Medienkanals „Compact TV“. In einem der Clips mit dem Titel „Dorfdisko Ausländer raus“ werden offen rassistische Parolen gegrölt. Angesichts dieser Funde beantragt Başay-Yıldız ein forensisches IT-Gutachten, um die Daten aus der Cloud umfassend auswerten zu lassen. Eine weitere Maßnahme, bei der sich die Frage stellt, warum sie erst auf Initiative der Nebenklagevertretung geschieht und nicht von Polizei oder Staatsanwaltschaft.

Weitere mögliche Straftaten von Daniel S. sind inzwischen bekannt: Zwei Solinger Nachbarn, beide mit Migrationsbiografien, zeigten ihn wegen Sachbeschädigung und gefährlicher Körperverletzung an. Einer von ihnen wurde mit einem Metallzaun beworfen. Die Polizei ermittelte dennoch nicht und verwies auf das Mittel der Privatklage. Kurz darauf sucht Daniel S. bei Google nach Begriffen wie: „Tod des Privatklägers“, „Anzeiger verstorben“ und „Waffenkauf Darknet“. In den bisherigen Ermittlungen spielt das keine Rolle.

Die Brände: Chronologie des Hasses

Die Funde in den digitalen Speichern von Daniel S. werfen ein Schlaglicht auf seine Ideologie. Doch nicht nur online, auch in der realen Welt folgt sein Handeln einer klaren, gewaltvollen Linie. 

Eine Chronologie seiner Taten zeigt: Der tödliche Brandanschlag vom März 2024 ist kein Einzelfall, sondern Teil eines rassistisch motivierten Musters. Besonders bitter wirkt die Vermutung, dass der tödliche Brand 2024 möglicherweise hätte verhindert werden können.

Zwei Brände in der Grünewalder Straße – beim zweiten sterben vier Menschen 

Bereits am 9. November 2022 soll Daniel S. im selben Mehrfamilienhaus in der Grünewalder Straße, in dem 2024 vier Menschen sterben, eine schwere Brandstiftung verübt haben. Der 9. November ist der Gedenktag an die Novemberpogrome. Alleine dieses geschichtsträchtige Datum hätte Ermittler*innen aufhorchen lassen müssen. 

Aus der Ermittlungsakte geht hervor, dass bereits nach dem Brand vom 9. November der Name des heutigen Angeklagten von der damaligen Vermieterin genannt wurde. Die Information gelangte zwar in die Akten, doch blieb sie folgenlos: Weder wurde der Mann als Zeuge vernommen, noch geriet er formell ins Visier der Behörden. Die Ermittlungen wurden eingestellt. Vor Gericht ist dieser frühe Hinweis bislang nicht thematisiert worden. Ein gravierendes Versäumnis der Strafverfolgungsbehörden?

Brandstiftung in der Josefstraße in Solingen

Einige Monate vor dem tödlichen Brand in der Grünewalder Straße brachte der Angeklagte am 16. Februar 2024 auf dem Flur des hölzernen Treppenhauses des Gebäudes in der Josefstraßein Solingen im Erdgeschoss mehrere Liter brennbare Flüssigkeit aus. Er platzierte drei Kunststoffflaschen mit brennbarer Flüssigkeit auf der Treppe in den Keller, auf einem Absatz der Kellertreppe und im Erdgeschoss. Anschließend entzündete er die ausgebrachte Flüssigkeit, die brannte. Zum Glück erlosch das Feuer von selbst.

Brand in der Normannenstraße in Wuppertal 2022

Doch damit nicht genug: Es gibt eine weitere Brandstiftung auf ein Mehrfamilienhaus, in dem hauptsächlich Menschen mit Migrationsbiografien lebten, die die Handschrift von Daniel S. trägt.

In der Wuppertaler Normannenstraße war am 5. Januar 2022 im Keller eines Wohngebäudes ein Feuer ausgebrochen. In diesem Haus hatte zuvor die Freundin des Angeklagten gewohnt. 2021 war es zu einem Streit zwischen diesem und einem Nachbarn mit marokkanischer Migrationsbiografie gekommen. Beide zeigten sich damals gegenseitig an.

Der Nachbar sagte im derzeit laufenden Verfahren aus. Er berichtet, dass der Angeklagte immer wieder Konflikte mit ihm begonnen habe. So habe Daniel S. ihn etwa mit Pfefferspray attackiert und immer wieder auf der Straße beleidigt.

Hätte der tödliche Brandanschlag verhindert werden können?

Während jener Zeit, als sich Daniel S. viel in dem Haus in Wuppertal aufhielt, wurde dem Nachbarn zufolge seine Bankkarte samt PIN aus dem Postfach gestohlen. Unbekannte hätten damit Geld abgehoben und Lotto gespielt. Außerdem habe der Zeuge mehrfach eine ölige Flüssigkeit vor seiner Wohnungstür bemerkt, wobei es sich möglicherweise um Brandbeschleuniger handeln könnte. 

Am 5. Januar 2022 brach schließlich ein Brand im Haus aus. Der Nachbar sagt, er habe den Rauch früh bemerkt und versucht zu fliehen. Doch die Haustür im Erdgeschoss sei, anders als sonst, von innen verschlossen gewesen. Erst mit seinem Schlüssel habe er sie öffnen können. Einige Tage vor dem Brand sei zudem das Schloss zur Kellertür, wo sich ein Fluchtweg befindet, ausgetauscht worden, während die sonst immer abgeschlossene Tür zum Heizungskeller offen war, genau von dort ging auch ein Brandherd aus. Darüber hinaus waren auf den im Gericht gezeigten Bildern vom Hauskeller zwei Gasflaschen zu sehen, die laut dem befragten Zeugen dort vorher nie standen. In Kombination mit der Brandstiftung lässt sich vermuten, dass der Täter diese durchaus bewusst in die Nähe des Brandherdes gelegt hat, um eine Explosion hervorzurufen. Zum Tatzeitpunkt hielt Daniel S. sich in dem Haus auf.

Jener Nachbar wurde nie als Zeuge zum Brand in Wuppertal befragt, obwohl er durch den dichten Rauch im Treppenhaus fliehen musste und auch die Feuerwehr gerufen hat – er hätte daher über den Brand ziemlich detailliert berichten können. Und dennoch gilt dieser Brand für die Ermittler*innen als ausermittelt und abgeschlossen. Laut Aktenlage hielt ein Polizeibeamter die Hinzuziehung eines Brandsachverständigen auf Grundlage von Fotoaufnahmen für entbehrlich.

Ermittlungsfehler beim Brand in Wuppertal?

Aufgrund der Datenauswertung von Daniel S. ist mittlerweile bekannt, dass S. unmittelbar nach dem Brandausbruch am 5. Januar 2022 die Adresse Normannenstraße in Wuppertal gegoogelt hat. Trotzdem soll das ein Zufall sein?

Oder hat Daniel S. auch den Brand in der Normannenstraße gelegt? Wenn dies der Fall sein sollte, hätte der Brandanschlag in Solingen vom 25. März 2024 verhindert werden können, wenn die Polizei zuvor ordentlich ermittelt hätte. 

Ein Justizversagen mit System?

Die Frage, die sich nun stellt, ist nicht nur: Wie konnte das geschehen? Sondern auch: Warum hat es niemand verhindert?

Der Fall Daniel S. offenbart ein Justizsystem, das weniger durch Aufklärung als durch Wegsehen auffällt. Ermittlungen werden halbherzig geführt, Beweismittel tauchen erst durch Eigenrecherche der Nebenklage auf. Der Angeklagte googelt „Waffenkauf Darknet“ – doch es spielt in den Ermittlungen keine Rolle. 

Was wie eine rassistische Anschlagsserie aussieht, wird vor Gericht zur Einzeltat ohne politisches Motiv umgedeutet. Der Fall Daniel S. zeigt auf bedrückende Weise, wie sehr rechte Gewalt noch immer verharmlost wird – und wie Behörden systematisch versagen, wenn es um den Schutz migrantischer Leben geht.

Hier geht es zu den bisherigen Prozessberichten von Adalet Solingen:

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Solingen: Ein rechter Serientäter, der keiner seien darf?

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"Im Vergleich zu kompetenteren Menschen überschätzen sich #inkompetente Personen nicht nur. Sie sind auch weniger in der Lage, anhand von Informationen aus dem sozialen Vergleich ihr wahres Leistungsniveau zu erkennen. Gleichzeitig verkennen sie die Leistung kompetenterer Menschen. Darum fehlen womöglich die #Motivation und Notwendigkeit, sich #weiterzubilden und die eigene #Kompetenz zu steigern." https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/psychologie/der-dunning-kruger-effekt-einfach-erklaert

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Dieser Professor erklärt, wie Merz die Rechtsextremen stärkt

Autor: Tarik Abou-Chadi. Dieser Text erschien zuerst bei Verfassungsblog. Überschriften teilweise ergänzt durch Volksverpetzer

Nun ist es passiert. Initiiert von Friedrich Merz – dem Kanzlerkandidaten der Union – verabschiedet der Deutsche Bundestag am 29. Januar 2025 Anträge zur Migrationspolitik mit den Stimmen der CDU/CSU, der FDP und der AfD. Zwar scheitert am 31. Januar der Versuch knapp, das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz zu beschließen, aber diese Sitzungswoche bleibt eine Zäsur in der deutschen Politik. Zum ersten Mal ist ein Antrag im deutschen Bundestag nur durch die Unterstützung der AfD angenommen worden. Zum ersten Mal hat man es sehenden Auges in Kauf genommen, dass es eine Mehrheit für ein Gesetzesvorhaben nur dadurch gibt, dass die AfD diesem Vorhaben zustimmt. Es ist ein neues Kapitel, in dem die AfD aus der Ausgrenzung in die Mitte der politischen Gestaltung tritt. Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist klar, dass solche Prozesse radikal rechte Parteien wie die AfD stärken.

Blickt man ins europäische Ausland, so sieht man viele Beispiele dieser Prozesse. Zunächst gab es häufig einen Cordon sanitaire um radikal rechte Parteien – so bezeichnet man in der Politikwissenschaft in der Regel das, was in Deutschland gerne als die Brandmauer bezeichnet wird. Mittlerweile sind Kollaborationen mit radikal und extrem rechten Parteien deutlich häufiger geworden. Steht die Brandmauer nun noch? Bröckelt sie? Der Blick auf die empirische Realität zeigt auch, dass binär-verstandene Begriffe wie Cordon sanitaire oder Brandmauer der Vielfalt der Wirklichkeit nicht gerecht werden.

Um den Umgang mit radikal rechten Parteien und seine Auswirkungen zu verstehen, ist es daher sinnvoll, zwei graduelle Prozesse zu unterscheiden: programmatische Anpassung und Einbindung und Zusammenarbeit in legislativen und exekutiven Rollen wie beispielsweise in Koalitionen. Die Politikwissenschaft hat sich ausgiebig damit beschäftigt, wie sich diese Prozesse auf die Legitimierung und schließlich auf den Erfolg radikal rechter Parteien auswirken.

Programmatische Anpassung stärkt radikal rechte Parteien

Programmatische Anpassung an die radikale Rechte betrifft vor allem das Thema Migration. Es ist gut dokumentiert, dass etablierte Parteien (mitte-links und mitte-rechts) restriktivere Positionen zur Migration einnehmen, wenn radikal rechte Parteien erfolgreicher werden. Dies passiert strategisch mit dem Ziel, verloren geglaubte Wähler:innen von radikal rechten Parteien zurückzugewinnen. Politikwissenschaftliche Studien zeigen allerdings auch, dass diese Strategie nicht funktioniert. Wenn andere Parteien restriktivere Positionen zur Migration einnehmen, schwächt das radikal rechte Parteien nicht. Wenn überhaupt, stärkt es diese Parteien eher. Mittelfristig normalisiert und legitimiert es ihre Positionen.

Der Prozess der programmatischen Anpassung führt zu einem sich selbst verstärkenden Kreislauf, der letztlich der radikalen Rechten dient. Dieser Kreislauf lässt sich so auch in Deutschland beobachten. Als Reaktion auf ein Erstarken der AfD (und besonders im Zuge von Ereignissen wie dem Anschlag von Solingen 2024) werden immer drakonischere Maßnahmen zu Flucht und Asyl beschlossen. Medial und politisch wird Migration zum Hauptproblem erklärt. Aktionistische Maßnahmen wie Bezahlkarten oder Grenzkontrollen haben geringe oder gar keine migrationspolitischen Effekte, sie führen aber dazu, ein immer negativeres Bild von Migrant:innen und Geflüchteten zu zeichnen.

Die Parteien verändern die Wahrnehmung

Diese Politik – mitgetragen von SPD, Union, Grünen und FDP – beeinflusst, wie Bürger:innen Flucht und Migration wahrnehmen. Das, was Parteien machen und sagen, hat einen starken Einfluss auf die Positionen und Prioritäten von Bürger:innen. Das heißt nicht, dass migrationspolitische Einstellungen nicht auch von realen Sorgen und politischen Ereignissen geprägt werden. Parteien und Medien spielen aber eine fundamentale Rolle bei der politischen Meinungsbildung. Für die Schweiz ist beispielsweise sehr gut dokumentiert, wie stark die Positionierungen von Parteien das Abstimmungsverhalten in sachpolitischen Referenden prägen.

Es kann also nicht verwundern, dass nach Jahren, in denen die etablierten Parteien nicht müde werden zu betonen, dass es weniger Migration geben muss, dass mehr abgeschoben und kontrolliert werden muss, Bürger:innen ihre Einstellung und Prioritäten dahingehend anpassen. Umfragen bilden diese veränderten Einstellungen dann ab. Politiker:innen gehen auf diese Einstellungen ein. Auch medial werden Umfrageergebnisse als bottom-up Betrachtung sachpolitischer Themen dargestellt. Es wird fast immer ignoriert, dass diese Einstellungen mindestens auch zu einem Teil die Konsequenz politischer und medialer Debatten sind.

Das Zustrombegrenzungsgesetz der Union stellt den Höhepunkt der programmatischen Anpassung der letzten Jahre dar. SPD und Grüne haben diesen letzten Schritt zwar nicht mitgemacht, sie haben mit ihrer Asyl- und Migrationspolitik der letzten Jahre aber dazu beigetragen, die AfD zu stärken und zu normalisieren.

Jede Form der Zusammenarbeit stärkt radikal rechte Parteien

Zusätzlich zur programmatischen Anpassung führten die Entscheidungen im Bundestag dazu, die AfD als relevanten und legitimen Akteur der Politikgestaltung zu etablieren. Kollaboration mit der radikalen Rechten kann viele Formen annehmen. Sie findet nicht erst dann statt, wenn formale Zusammenarbeit beschlossen wird oder wenn radikal rechte Parteien Regierungen beitreten oder unterstützen. Parteien können auf unterschiedlichen Ebenen sowohl legislativ als auch exekutiv mit der radikalen Rechten zusammenarbeiten.

Jede Form der Zusammenarbeit führt zu einer stärkeren Normalisierung radikal rechter Parteien. Politikwissenschaftliche Forschung zeigt, dass wenn etablierte Parteien legitimierend mit radikal rechten Parteien umgehen, dann auch Bürger:innen diese Parteien als legitimer wahrnehmenSignalisieren politische Parteien die Bereitschaft, mit radikal rechten Parteien zusammenzuarbeiten, stärkt das die radikale Rechte.

Zentral ist hierbei eine Verschiebung von Normen, die aus signalisierter Zusammenarbeit resultiert. Normen spielen für politisches Verhalten eine wichtige Rolle. Wie im Alltagsleben lernen wir auch politisch, dass bestimmte Umgangs- und Verhaltensformen legitim sind. Andere Dinge gehören sich schlicht nicht. In seinem vor kurzem erschienen Buch beschreibt der Politikwissenschaftler Vicente Valentim die Rolle von Normen im Aufstieg der radikalen Rechten.

Die Stigmata gegen die radikalen Rechten sind verschwunden

In den meisten Ländern gab es zunächst ein Stigma um die radikale Rechte, um ihre Positionen und Rhetorik. Es ging gegen soziale Normen, sich öffentlich zu diesen Parteien zu bekennen, sie zu unterstützen oder für sie politisch anzutreten. Diese Normen wurden aufgeweicht oder sind ganz verschwunden. Zunächst liegt das auch am Erfolg der Parteien selbst. Parteien, die in Parlamenten vertreten sind, werden als „normalere“ Parteien wahrgenommen. Aber auch der Umgang von Medien und anderen Parteien mit der radikalen Rechten hat sich verändert.

Sie sind regelmäßige Gäste in verschiedensten medialen Formaten. Protest und Boykott bleiben heute zumeist aus. In vielen Ländern sind radikal rechte Parteien heute so bereits Normalität geworden. Gerade auch junge Menschen zeigen eine immer größere Affinität zu diesen Parteien. Das Stigma ist weg. Allein der Versuch, mit der AfD politische Mehrheiten im Bundestag herzustellen, trägt dazu bei, diese Partei zu normalisieren. Ist soziales Stigma erstmal abgebaut, lässt es sich so leicht nicht wieder herstellen.

Wenn die Brandmauer fällt

Die Konsequenzen von programmatischer Anpassung und Normalisierung der radikalen Rechten lassen sich in vielen europäischen Nachbarländern beobachten. Nach Jahren der programmatischen Annäherung, gab die Vorsitzende der rechtsliberalen VVD, Dilan Yeşilgöz, im Wahlkampf 2023 bekannt, dass sie eine Regierungszusammenarbeit mit der PVV von Geert Wilders nicht mehr ausschließt. Im Anschluss überholte die PVV die VVD in den Umfragen und wurde schließlich stärkste Partei bei den Parlamentswahlen. Die Ereignisse in den Niederlanden sind keine Ausnahme.

In einer Vielzahl von Wahlen in Europa haben radikal rechte Parteien mittlerweile stärkere Ergebnisse erzielt als christdemokratische und konservative Parteien. Dazu zählen: Frankreich, Italien, Österreich und Schweden. In allen diesen Ländern haben sich Mitte-rechts-Parteien den Positionen der radikalen Rechten stark angenähert. In all diesen Ländern wurde der Cordon sanitaire aufgehoben. Im Ergebnis ist die radikale Rechte nun die stärkste Kraft rechts der Mitte. Ein Gegenbeispiel, in dem das Aufheben des Cordon sanitaire dazu geführt hat, die radikale Rechte langfristig zu schwächen, sucht man vergebens.

Merz: Die (Selbst) Zerstörung der Union

Das Schadet der Demokratie und unseren Grundrechten

Die Konsequenzen der Normalisierung und Legitimierung der radikalen Rechten gehen allerdings weit über die Parteienpolitik hinaus. Auch wenn die radikale Rechte noch nicht in Regierungsverantwortung ist wie in den USA, in Italien oder Ungarn, führt ihre Präsenz und Stärke, ihre größere Akzeptanz bereits zu einer Erosion basaler Prinzipien der liberalen Demokratie.

Indirekt, weil andere Parteien zunehmend vor inklusiver Politik zurückschrecken, weil Grundrechte und rechtsstaatliche Prinzipien infrage gestellt werden, weil Bekenntnisse zur liberalen internationalen Ordnung ausbleiben. Direkt, weil sich Kräfte Rechtsaußen ermächtigt fühlen. Es folgen zunehmende Bedrohungen, Einschüchterungen und Gewalt gegen Minderheiten und diejenigen, die sich für eine andere Politik einsetzen. All das ist diese Woche etwas mehr Teil deutscher Realität geworden. Dazu haben Friedrich Merz und Christian Lindner fundamental beigetragen.

Der Artikel erschien zuerst auf verfassungsblog.de, CC BY-SA 4.0. Einleitung und Zwischenüberschriften ergänzt durch Volksverpetzer. Verfassungsblog ist ein Open-Access-Diskussionsforum zu aktuellen Ereignissen und Entwicklungen in Verfassungsrecht und -politik in Deutschland, dem entstehenden europäischen Verfassungsraum und darüber hinaus. Er versteht sich als Schnittstelle zwischen dem akademischen Fachdiskurs auf der einen und der politischen Öffentlichkeit auf der anderen Seite.

Tarik Abou-Chadi ist Associate Professor of European Politics am Nuffield College der University of Oxford. Er forscht zum Wandel von Parteiensystemen in post-industriellen Gesellschaften. Artikelbild: Michael Kappeler/dpa

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Berliner Morgenpost: Trump erklärt Transgender den Krieg – so wappnen sich Betroffene

Nur noch zwei Geschlechter: trans und nichtbinäre Menschen verlieren in den USA ihre mühsam erkämpften Rechte. Was das für Betroffene heißt.

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Der designierte US-Präsident Donald Trump hat angekündigt, am Tag seiner Amtsübernahme dem "Transgender-Wahnsinn" ein Ende zu bereiten. Er wolle zudem "Männer aus dem Frauensport heraushalten", sagte Trump bei der Konferenz AmericaFest, die sich an junge Konservative richtet.

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Sumikai: Drittes Gericht in Japan erklärt Verbot der gleichgeschlechtigen Ehe für verfassungswidrig

Das Obergericht Fukuoka hat am Freitag entschieden, dass die fehlende rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehe verfassungswidrig ist. Damit ist es das dritte Obergericht in Japan, das zu diesem Schluss kommt.

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Verkehrsminister Albert Rösti versteht das grundlegende Strassen-Gesetz nicht. Wissenschaftliche Studien aus der ganzen Welt zeigen… Die Hintergründe im Clip zur Autobahn-Abstimmung vom 24.11. von #MichaelElsener.
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