Fachkräfte rein, Facharbeit raus
In Scharen rennen junge, gebildete Menschen aus dem bevölkerungsreichsten Land der Erde auch nach Deutschland. Gleichzeitig lagert ein weiterer deutscher Konzern nach der Güter-Produktion auch die geistige Arbeit nach China aus.
„Ich komme aus Mumbai (alter Name Bombay)“, antwortet die 30-jährige indische Hautärztin entschuldigend auf die Frage, warum sie ihre neue Heimat Essen weniger mag als Köln. Die bis zu zehn unbezahlten Überstunden pro Woche standen dafür in den Arbeitsverträgen der Praxen in beiden Städten, sagte sie und setzte hinzu: „Aber in Indien waren es noch viel mehr Stunden.“ In Deutschland vermisse sie nur das „echte“ indische Essen und „mies“ sei hier einzig das Winterwetter. Lachend stimmt ihr 32-jähiger indischer Sitznachbar im Flieger nach Delhi zu, ein Informatiker. Aber er hätte mit sechs Wintern nun schon tapfer einen mehr überlebt, als die Hausärztin. Begeistert sind beide, dass sie es bei deutschen Behörden noch nie mit Korruption zu tun hatten. Auf die Frage, ob sie die deutsche Bürokratie nicht störe, winkt der Informatiker nur lachend ab: „Die ist in Indien noch schlimmer.“
Begeistert auf den Weg nach Delhi sind meine Sitznachbarn nicht. Beide werden für knapp 10 Tage und auch nur für Hochzeiten in ihr Geburtsland zurückkehren. Der junge Informatiker kündigt an, er werde acht Stunden stoisch am Flughafen in Delhi auf seinen Weiterflug nach Südindien warten: „Ich werde diese katastrophale Stadt (Delhi) nicht betreten.”
Das Warum wird jedem klar, sobald er die moderne Metro am Hauptbahnhof verlässt. Menschengeschrei, Autohupen und Gestank aus unzähligen Quellen begrüßen den Gast. Alles eingehüllt im üblichen Wintersmog. An etlichen Lagerfeuern stehen spindeldürre Rikscha-Fahrer. Am Rand der Brücke, die über den Bahnhof führt, sitzen oder liegen dutzende Obdachlose mit dreckigen Stoffbandagen als Schuhersatz. Auf der Straße werden Güter auf Holzkarren noch von Menschen oder Pferden gezogen – inmitten einer Abgas speienden Blechlawine. Neben den 34,6 Millionen Menschen in der indischen Hauptstand sind auch 13 Millionen motorisierte Fahrzeuge registriert.
Dieses Jahr hat die Regierungspartei BJP von Premierminister Narendra Modi auch die politischen Geschäfte der Hauptstadt übernommen. Anstatt wie bei den Wahlen versprochen, gegen die Luftverschmutzung vorzugehen, leugneten sie im Oktober zum Lichterfest Divali einfach dass es Smog gibth. Da die staatlichen Webseiten mit den Daten über Luftverschmutzung in einer Demokratie jedoch nicht andauernd abgeschaltet werden können und das Oberste Gericht jetzt selber nachprüfen möchte, wo die Daten geblieben sind, gibt es seit einem Monat einen neuen Trick a la Modi. Laster der staatlichen Behörden mit Wassersprühkanonen fahren nicht nur durch die Stadt, sondern besonders oft direkt an den Messstationen vorbei, um es dort „regnen“ zu lassen. Doch auch die Journalistin Sonal M. Kapoore und die Umweltaktivistin Bhavreen wiesen mit einem Vorort Besuch den „Beschiss“ nach: Anstatt 500 mg Feinstaub pro m³, wie ein paar Hundertmeter weiter gemessen, zeigte ihr Gerät direkt an der die beregneten Messtation nur „300“ mg Feinstaub der Größe pm 2,5 an.
Einen Monat später besuchte ich am 4. Dezember die gleiche Messtation in Anand Vihar/Delhi und sah immer noch das, was die beiden tapferen Damen berichtet hatten. Im Index der Pressefreiheit belegt Indien Rang 151. Auf der Hauptstraße fuhren Laster mit Sprühkanonen teilweise im Minutentakt an der Messstation vorbei. Auf der Rückseite fuhr eine „fahrende“ Sprühkanone andauernd hin und her, so dass sich an den entstehenden Pfützen die Tierwelt Delhis erfreuen konnte: Bussarde und ein paar der eine Millionen Straßenhunde Delhis. Die wollte die BJP-Stadtregierung jetzt nach und nach kastrieren lassen, doch das Oberste Gericht entschied: nicht nur kastrieren, sondern auch tiergerecht unterbringen.
Zu den Autofahrern ist die BJP-Regierung von Beginn an freundlicher: Das Problem mit den vielen unbezahlten Strafzetteln wegen Verkehrsdelikten sollte mit einem Preisnachlass von 50-70 Prozent für die säumigen Sünder gelöst werden. Von den 2,24 Millionen Bußgeldern die die Verkehrspolizei Delhis in diesem Jahr verhängt hat, wurden erst 55.075 bezahlt. Doch das Oberste Gericht hat bei so viel Freundlichkeit gegenüber einer „Bevölkerungsgruppe“ bedenken und Einspruch eingelegt .
Die Vorgänger Regierung der BJP in Delhi, die Aam Aadmi Party, hatte immerhin versucht, als eine Maßnahme gegen die Luftverschmutzung mehr Menschen in die Metro zu bekommen und verzichtete acht Jahre lang auf eine Preiserhöhung. Im Jahr 2018 hatte auch in Indien das Ergebnis einer Studie die Runde gemacht, nach der die Metro Delhis die zweitteuerste der Erde sei – im Verhältnis Durchschnittseinkommen zum Fahrpreis.
Die BJP-Regierung hat die Fahrpreise dann im August bis zu 10 Prozent erhöht. Dazu wird auf der Flughafen Metro-Linie jetzt jede Station mit einer Werbung angekündigt. Ungefähr so: Nächste Haltestelle Köln-Hauptbahnhof, gesponsert von Diebels/Anheuser-Busch.
So wie Delhi seit Februar 2025 hat die Modi-Regierung seit 2014 das ganze Land regiert. Was die boomenden Wirtschafsdaten der Modi-Regierung angeht, die auch unsere Wirtschaftsmedien gerne feiern, hier ein paar andere Zahlen: Im Vor-Corona Jahr 2019/20 hatte Indien das geringste Wirtschaftswachstum seit 11 Jahren und die höchsten Arbeitslosenzahlen seit 45 Jahren.
2023 sagte Ashoka Mody, Professor für Internationale Wirtschaftspolitik und ehemaliger Mitarbeiter der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds, dass Indiens hohe Wachstumszahlen in Relation zu den wirtschaftlichen Einbrüchen in den Corona-Jahren gesetzt werden müssen. India ist broken, lautet der Titel seines aktuellen Buches.
Am 4.Dezember ist der Wechselkurs der indischen Rupie zum US-Dollar auf ein Allzeittief gestürzt. Ebenso zum Euro. „Wie kann es sein, dass die Währung eines Landes dessen Wirtschaft boomt, abstürzt. Die Währung eurer schwächelnden europäischen Wirtschaft dagegen wertvoller wird?“, fragte mich gestern ein indischer Student.
Was den aktuellen Besuch Putins in Indien angeht. Es ist nebensächlich, wenn Putin sagt, Indien könne so viel Öl aus Russland kaufen, wie es möchte. Es wäre nur eine Meldung wert gewesen, wenn Narendra Modi gesagt hätte, er würde weiter viel Öl aus Russland kaufen. Aber dies hat er nicht. Dabei hätte Indien alles Recht der Erde, sich weiterhin nicht an den Sanktionen des Westens gegen Russland zu beteiligen. Dies beschrieb der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar in einem Interview mit dem östereichischen Standard ausführlich. Zusammengefasst: Während der Westen Indien Jahrzehnte links liegen gelassen hat und auch noch den Erzfeind Pakistan unterstützte, war Russland immer für Indien da. Leider hat er in diesem Punkt Recht. Auch an den letzten Verrat erinnert sich noch jeder in Indien: 1999 hatten die USA mal wieder mal gemerkt, dass die pakistanischen Generäle sie an der Nase herumgeführt hatten – nun wollten sich die USA endgültig von Pakistan trennen und Indien zuwenden. Doch dann fielen im Jahr 2001 die Türme des World Trade Centers und die USA brauchten Pakistan mal wieder als Basecamp für einen Krieg in Afghanistan.
Zalando lagert nach China aus
Lebten im Jahr 2010 nur 48.000 Menschen aus Indien in Deutschland sind es heute etwa 280.000 (darunter 50.000 Studenten) und es werden noch viel mehr werden – vor allem Menschen mit qualifizierten Abschlüssen. Schon jetzt sind Menschen aus Indien die Bevölkerungsgruppe mit dem höchsten Durchschnittsverdienst in Deutschland.
Aber wenn die von der Wirtschaft geforderten Fachkräfte nun endlich zu uns kommen, warum entlässt dann der Online-Modekonzern Zalando nicht nur Mitarbeiter in Deutschland, sondern baut zur gleichen Zeit ein Technologiezentrum in Shenzhen/China auf ? Um nun auch an den gutbezahlten „Weiß-Kragen-Jobs“ zu sparen, zumindest die hatten europäische virtuelle Unternehmen (Konzerne) bis jetzt noch im Globalen Norden belassen, bestätigte enttäuscht ein hoher Zalando-Mitarbeiter einem meiner besten Freunde.
Warum dann Zalando nicht zumindest ins noch demokratische Indien auslagert, kann man sich vorstellen: In China gibt es kein Oberstes Gericht, das gegen Entscheidungen der Regierung Einspruch einlegen kann. Ebenso keine tapferen Journalistinnen und Wissenschaftlerinnen die Lügen der Regierung öffentlich machen.
Das soll jetzt kein Hetzen gegen China sein, was die reinen Zahlen angeht, sieht es dort viel besser aus, als in Indien. Es sollte eher eine Einleitung für ein paar Sätze an höhere Konzernmitarbeiter sein, sollten die zufällig hier hereinschauen: Haben Sie schon mal vom chinesischen Unternehmer und Milliardär Jack Ma gehört? Nachdem er 2020 die chinesische Regierung kritisiert hatte, verschwand er für drei Monate. Nach seiner Rückkehr klang er zahm wie ein Parteimitglied der Kommunistischen Partei Chinas.