Das Taschentuch-Medienversagen: Wie wir Propaganda Reichweite geben
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Das Taschentuch-Medienversagen: Wie wir Propaganda Reichweite geben
von Thomas Laschyk | Mai 13, 2025 | Faktencheck
Putin, der Diktator und Kriegstreiber, der völkerrechtswidrig die Ukraine überfallen hat, und jederzeit einfach damit aufhören könnte, hat stattdessen eine vorgeschlagene Waffenruhe ausgeschlagen, die von Macron, Starmer und Merz gefordert wurde, die dazu nach Kyjiw gereist waren. Das ist die tatsächliche Information, die du wissen solltest. Aber stattdessen hat prorussische Propaganda es geschafft, dass die (deutsche) Medienlandschaft sich von einem Taschentuch hat ablenken lassen, Lügen Reichweite zu geben. Warum so viele Mainstream-Medien im Kampf gegen Desinformation versagen.
Es ist ein Taschentuch
Am 9. Mai 2025 reisten Bundeskanzler Friedrich Merz, der französische Präsident Emmanuel Macron und der britische Premierminister Keir Starmer gemeinsam mit einem Sonderzug in die ukrainische Hauptstadt Kiew. Diese diplomatische Mission sollte ein starkes Zeichen europäischer Solidarität gegenüber der Ukraine setzen und beinhaltete die Forderung nach einem 30-tägigen Waffenstillstand im anhaltenden Konflikt mit Russland.
Während der Zugfahrt fand ein kurzer Fototermin statt, bei dem Medienvertreter eingeladen wurden, die drei Staats- und Regierungschefs in einem Besprechungsraum zu fotografieren. In einem in sozialen Netzwerken verbreiteten Video von diesem Termin ist zu sehen, wie Macron ein Taschentuch vom Tisch nimmt und in seiner Hand hält. Bei dem Gegenstand in Merz‘ Hand handelt es sich um einen Holzspieß oder Rührstab, wie er üblicherweise für Getränke verwendet wird. Der Élysée-Palast veröffentlichte ein vergrößertes Foto der Szene auf Twitter, die das zeigten.
Was war die Lüge dazu? Einige Nutzer behaupteten zu dem Videoausschnitt, der bewusst in schlechter Auflösung geteilt wurde, es handele sich bei dem Taschentuch um ein Tütchen mit Kokain. Zusätzlich wurde spekuliert, Merz habe einen sogenannten „Schnupflöffel“ verwendet. Die Verbreitung dieser Desinformation erfolgte vor allem über prorussische Kanäle in sozialen Medien. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, teilte das Video und kommentierte es mit sarkastischen Bemerkungen über angeblichen Drogenkonsum der westlichen Politiker. Diese Aktion wird von Experten als Teil einer gezielten Desinformationskampagne des Kreml bewertet, die darauf abzielt, die Einheit und Glaubwürdigkeit der europäischen Unterstützung für die Ukraine zu untergraben.
Aber wie jeder sehen kann, ist es nur ein Taschentuch. Die französische Regierung hat gut darauf reagiert. Aber nicht jedes (deutsche) Medium tat das Gleiche.
… und jetzt zur russischen Propaganda
Euronews gibt die russischen Lügen prominent in ihrer Schlagzeile wieder. Noch dazu als offene Fragen. Auf beide Fragen gibt es jedoch eine konkrete Antwort: Nein, ein Taschentuch und ja, Moskau verbreitet Gerüchte.
Das ZDF stellt die gleiche offene Frage:
Auch der Faktenfinder der Tagesschau wiederholt die Lüge, zumindest in der oberen Zeile:
Auch ZEIT wiederholt die Lüge, aber immerhin erwähnt sie, dass jemand sie zurückgewiesen hatte. Aber auch die ZEIT sagt uns nicht, wer hier Recht hat.
Und jede Menge andere. Nach Lesen der Schlagzeilen wissen wir bestenfalls, dass es Vorwürfe von Koks im Zug bei Macron und Merz gibt, und es offenbar unklar ist, ob sie stimmen oder nicht. Aber das ist ja nicht der Fall, nicht? Es ist glasklar, dass sie falsch sind. Es ist klar, wer dahintersteckt. Und wir wissen, was stattdessen wahr ist: Es war ein Taschentuch. Das würdest du aber beim Lesen dieser Schlagzeilen nicht erfahren.
Klar, in dem jeweiligen Artikel steht alles richtig. Aber die meisten Menschen lesen nur die Überschriften. Die Schlagzeile setzt buchstäblich den Ton, den Rahmen. Wenn ich euch sage, ihr sollt nicht an rosa Elefanten denken, denkt ihr natürlich an rosa Elefanten. Selbst wenn ich dir dann in einem Artikel lang und breit erkläre, warum es so etwas nicht gibt. Wann haben so viele Medien verlernt, die Wahrheit zu sagen, Stellung zur Wahrheit zu besitzen und auszusprechen, was stattdessen wahr ist? Insbesondere die Öffentlich-Rechtlichen fallen hier negativ auf, die auch immer noch gesichert Rechtsextreme ohne ausreichende Einordnung und Faktenchecks eine Bühne bieten und sich weigern, damit aufzuhören.
Das ist ein Taschentuch und ihr werdet von Russland belogen
Andere haben es hingegen besser gemacht. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland hat immerhin die Lüge verneint und es als „Lügengeschichte“ bezeichnet, auch wenn sie die Lüge wiederholen.
Als einer der besten war der Kölner Stadt-Anzeiger, der den Mythos nicht wiederholt und stattdessen sagt, was WIRKLICH passiert ist: Dass eine russische Propaganda-Geschichte viral gegangen ist. Und den Bezug zur Agenda des Putin-Regimes herstellt.
Es muss sich ganz dringend das Bewusstsein in den Redaktionen durchsetzen, dass die Schlagzeilen von Artikeln nicht einfach nur netter Schmuck für die Artikel sind. Mit ihnen steht und fällt die Information, die man verbreitet. Es ist im Zweifel das Einzige, was die Menschen lesen. Was tausendmal mehr Menschen lesen als den ausführlichen Artikel. Es muss sich das Bewusstsein durchsetzen, dass man auch eine Verantwortung für die Schlagzeilen trägt, die nicht durch einen noch so guten Artikel wieder reingewaschen werden.
Wer Propaganda verbreitet, auch um sie zu widerlegen, verbreitet Propaganda
Wer russische Propaganda verbreitet, selbst, um sie zu widerlegen, der verbreitet russische Propaganda. Haben wir 2025 weiterhin nicht gelernt, dass man so nicht der Desinformation widerspricht? Im Gegenteil ist das genau, wie wir seit Jahren der Desinformation helfen, Reichweite zu bekommen. Die meisten hätten die Lüge nie gehört, wenn sie nicht achtlos nachgeplappert worden wäre – als offene Frage, deren Antwort unklar ist. In der Hoffnung, dass ein paar Leute mehr den Artikel anklicken und man so ein paar Cent via Werbung verdient.
So ist Trump Präsident geworden. So ist die gesichert rechtsextreme AfD stark geworden. Es ist nicht „parteiisch“, oder nicht „nicht neutral“, wenn man gleich und von Anfang an sagt, was wahr ist. Im Gegenteil, das ist der Job von Journalismus. Wenn unsere Medien nicht die Wahrheit verteidigen und nicht die Wahrheit aussprechen, wird es niemand tun. Also: Putin ist ein gesuchter Kriegsverbrecher, der sich weigert, mit dem Morden aufzuhören. Und das war nur ein Taschentuch.
Artikelbild: Kay Nietfeld/dpa
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