BILD: Will Bojanowski mehr Tote durch Sturmfluten?
Die menschengemachte Klimakrise wird in den nächsten Jahrzehnten unzählige Menschenleben fordern – sei es durch Hitze, Unwetterereignisse oder auch Überschwemmungen. Während die Aufgabe von globaler Wirtschaft und Politik weiterhin vor allem die Senkung der Treibhausgasemissionen ist, sind gerade die Menschen in küstennahen Gebieten dazu gezwungen, sich mit technischen Vorkehrungen darauf einzustellen, dass der Meeresspiegel ansteigt und Sturmfluten in den nächsten Jahrzehnten immerwahrscheinlicher undzerstörerischer werden.
Eine zentrale Rolle spielt dabei die Klimaforschung. Dank deren Modellrechnungen können sich Menschen in betroffenen Gebieten gezielt auf die Veränderungen vorbereiten. Deiche können entsprechend ausgebaut werden, selbst technischeRiesenprojekte wie die Deltawerke in den Niederlanden können gezielt umgesetzt werden. Doch gerade das Beispiel der Deltawerke zeigt auch, dass es in der Vergangenheit immer erst zur Katastrophe kommen musste, bevor das Umdenken einsetzte. Auch deswegen hat sich der Fokus in den letzten Jahrzehnten dazu verlagert, bereits im Vorfeld zu warnen. Dadurch müssen wir nicht warten, bis die Sturmflut tausende Menschenleben kostet, sondern können davor tätig werden. Oder, wie Axel Bojanowski es in der BILD nennt: „Panikmache“. Was man eben so schreibt, wenn man ein Buch zu verkaufen hat.
Hollandsturmflut 1953: Die Katastrophe, die Bojanowski nicht kennt
Die Niederlande kann vom Thema Meeresspiegelanstieg ein Lied singen. Rund ein Viertel des Landes liegt unter dem Meeresspiegel – das weiß sogar die WELT. Dass die Niederlande ein dicht besiedelter Staat und kein Wattenmeer sind, ist allein den umfangreichen Flutschutzmaßnahmen zu verdanken. Dabei gibt es dort Landgewinnungsmaßnahmen und Deiche schon seit Jahrhunderten. Allerdings brauchte es erst eine echte Katastrophe, die den Startschuss für die moderne Infrastruktur zum Küstenschutz gab. Das war die Hollandsturmflut von 1953.
In der Nacht auf den 1. Februar 1953 drangen gewaltige Wassermassen von der Nordsee her in die Niederlande ein. Zahlreiche Deiche brachen, viele Inseln, vor allem in der flachen Provinz Zeeland, standen unter Wasser. Die Niederlande lernten daraus, die Flut von 1953 war die Initialzündung für den Delta-Plan, eine Kombination aus massiven Sperrwerken, Fluttoren und Schleusen. Außerdem wurden die Deiche nochmals erhöht . Und zwar nicht auf die bisher genutzte Maximalhöhe vorheriger Sturmfluten (denn das hatte sich ja als zu niedrig erwiesen), sondern auf mit statistischen Modellen berechnete Höhen, die einen Puffer enthalten. Die Maßnahmen sind bis heute wirksam, doch sie wurden zu einem bitteren Preis erkauft. Über 1.800 Menschen starben allein in der Sturmflut im Januar/Februar 1953.
Doch bei der BILD kennt man diesen historischen Hintergrund offenbar nicht – oder ignoriert ihn bewusst, um Desinformation zu verbreiten. So bezeichnete Axel Bojanowski, den Volksverpetzer-Gastautor Jan Hegenberg schon einmal eines peinlichen Rechenfehlers überführte, solche Modelle als “Panikmache”, denn “der beliebteste Weltuntergang verkaufe sich eben besonders gut” – um unmittelbar danach Werbung für sein Buch einzublenden. Keine Pointe.
Wie False Dilemma Klimaschutz gegen Prävention ausspielt
Ja, es ist mal wieder Axel Bojanowski. Der sogenannte “Chefreporter Wissen(schaft)” der WELT, dessen Thesen bei Volksverpetzer schon mehrfach widerlegt wurden, hat mittlerweile seinen Weg gefunden, sich in die großen deutschen Talkshows einzuschleichen. Er leugnet nicht die menschengemachte Klimakrise, sondern nutzt seine ganz eigene Variante des False Dilemma. Dabei handelt es sich um eine Desinformationstechnik, die fälschlicherweise annimmt, es gebe zwei entgegengesetzte Optionen und man müsse zwingend nur eine wählen, deren Verwendung die andere ausschließt.
In diesem Fall sind die beiden Optionen die Anpassung an Klimafolgen (wie Sturmfluten) sowie politischer Druck auf die Regierungen, Klimaschutz als Priorität zu behandeln (was in rechts-konservativen Kreisen gern als “Panikmache” abgeräumt wird, obwohl Modelle in der Vergangenheit die Gefahren sogar eher noch unterschätzt haben). Für Expert:innen und auch die meisten Menschen ist offensichtlich, dass wir beides machen müssen. Nämlich den Klimawandel bekämpfen und uns dennoch an seine Auswirkungen anpassen.
Doch wie gesagt: So viel Komplexität, dass man zwei Dinge gleichzeitig machen kann, hält man bei der Axel-Springer-Presse offenbar nicht aus. Deswegen betont Bojanowski (richtigerweise!) die Bedeutung von Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel – und impliziert dabei (fälschlicherweise!) dass deswegen der politische Druck auf die Regierungen sinnlose “Panikmache” sei.
Besonders gern nimmt Bojanowski dabei die Niederlande als Beispiel. Der oben erwähnte Delta-Plan ist sein Lieblingsargument. Da habe man schließlich ganz sachlich, nüchtern und unaufgeregt ein technisches Wunderwerk geschaffen, mit dem man sich vor der Sturmflut schützt – statt, so impliziert zumindest der Hollandflutleugner Bojanowski, der “Panikmache” zu folgen, die jetzt der “Mainstream” sei. Dass dieser Fortschritt zum Preis von über 1.800 Menschenleben erkauft werden musste, davon ist natürlich nicht die Rede.
Besonders empört zeigen sich BILD und Bojanowski dagegen von einer Analyse der amerikanischen Organisation Climate Central 2021. Die haben ein hervorragendes Tool online gestellt, mit dem man auf einer interaktiven Weltkarte genau einsehen kann, in welchem Jahr unter welchen Klimabedingungen welche Teile der Welt überflutet sein werden. Das Tool ist wichtig, um betroffenen Regionen eine Risikoeinschätzung zu erleichtern. So können zum Beispiel Bojanowskis geliebte Niederländer:innen damit abschätzen, unter welchen Bedingungen wann welche Teile ihres Landes von Überschwemmung bedroht sind.
Das Tool ist aber natürlich auch ein wichtiges Mittel um Druck auf die Politik zu machen. Es zeigt eindrucksvoll und konkret, wer sich Sorgen machen muss und Spoiler: Es sind viele Millionen Menschen allein in den Küstenmetropolen. Das passt WELT und BILD natürlich gar nicht. Schließlich denkt bei so einem Tool niemand an die Interessen von armen fossilen Investoren wie KKR, denen bis vor kurzem Teile des Axel-Springer-Verlags gehörten!
Auch Deutschland lernte Sturmflut-Gefahr auf die schmerzhafte Art
Für alle anderen Menschen, also diejenigen, die weder von Klima- und Umweltzerstörung profitieren, noch Klimapolitik blockieren wollen, um ihr Buch zu verkaufen, ist es aber sehr relevant, dass die Politik auf Alarmsignale aus der Wissenschaft hört.
Übrigens: Auch in Deutschland gab es eine ähnliche Sturmflut wie 1953 in den Niederlanden. Es handelt sich um die Sturmflut von 1962. Auch hier kam der Sturm über Nacht, allein in Hamburg starben über 300 Menschen, Tausende wurden obdachlos. Grund dafür war aber nicht allein die Gewalt der Natur. Die Sturmflut offenbarte auch massive Defizite im Küstenschutz, mit einer solchen Zerstörungskraft hatte niemand gerechnet.
Doch man lernte aus der Sturmflut und es war gerade der politische Druck, der zu einer Verbesserung der Vorwarnsysteme (ist eigentlich auch das “Panikmache”?) und Ausbesserung sowie Erhöhung der Deiche führte, sodass 1976 eine erneute Sturmflut mit noch höheren Pegelständen zumindest in Hamburg kein einziges Todesopfer mehr forderte. Und das, obwohl bei St. Pauli der höchste jemals gemessene Pegel notiert wurde.
Sicherlich stand bei den Deicharbeiten in den Niederlanden der 50er Jahre auch irgendwo ein Herr B. daneben und meckerte die Wissenschaftler:innen voll, die, basierend auf statistischen Modellen („Panikmache“), die Deiche erhöhten. Und bestimmt stand dessen Hamburger Cousin später an der Deichbaustelle in Finkenwerder und murmelte etwas von “unnötiger Steuergeldverschwendung”, als die Deiche dort ausgebaut wurde und noch ein Meter Puffer für ungewöhnlich hohe Wellen aufgeschlagen wurde. Doch das waren dann verwirrte Eigenbrötler, die Gesellschaft hat nicht auf sie, sondern auf die Wissenschaft gehört. Und damit Hamburg 1976 und die Niederlande wohl unzählige Male vor der nächsten Katastrophe geschützt.
Auch dank Klimawissenschaft: Sturmflut-Schutz heute ohne tausende Tote möglich
Der Unterschied ist heute: Diese Eigenbrötler haben eine Plattform, die größte Plattform der deutschen Medienlandschaft sogar. Die Wissenschaft mahnt weiterhin mit ihren Modellen, dass wir nicht gut genug vorbereitet sind. Doch anders als in den Niederlanden in den 1950er Jahren, als unumstritten war, dass die Modelle Grundlage des Ausbaus sein würden, werden diese heute reichweitenstark als “Panikmache” abgetan. Dabei ist es ein Beleg für den wissenschaftlichen Fortschritt, dass wir heute schon das Wissen haben, mit dem wir künftige Katastrophen verhindern können. Ohne dass sie erst eintreffen müssen.
Es kann sein, dass sich die öffentliche Meinung erst nach der nächsten vermeidbaren Katastrophe ändert. Doch das würde wieder Menschenleben und weitreichende Zerstörung kosten. Ein bitterer Preis, den wir vermeiden könnten, wenn wir statt auf WELT und BILD tatsächlich wieder auf die Klimaforschung hören, auch wenn deren Prognosen uns vielleicht Angst machen. Sonst müssen wir dem bitteren Lied der Niederlande von 1953 und der Hamburger Sturmflut von 1962 noch viele weitere Strophen hinzufügen. Denn Leute wie Bojanowski lernen offenbar nur aus der Katastrophe.
Übrigens: Selbst die Delta-Werke, das Vorzeigekind der Klimaanpassung, sind “nur” für einen Meeresspiegelanstieg von 40 cm vorgesehen. Manche Expert:innen rechnen bis Ende des 21. Jahrhundert mit bis zu 2 Metern. Die Niederlande müssen sich also entscheiden, ob sie das als “Panikmache” abtun, bis die nächste Hollandsturmflut kommt. Oder auf die Wissenschaft hören und sich gerade wegen der “Panikmache” daran anpassen.
Artikelbild: gemeinfrei

„Sturmfluten sind häufiger und höher geworden“
In diesem Sommer geht es für viele Menschen nicht an die Strände Südeuropas, sondern nach Norddeutschland. Dort, wo die anderen Urlaub machen, arbeitet Insa Meinke. Sie leitet das Norddeutsche Küsten- und Klimabüro am Helmholtz-Zentrum Geesthacht und erforscht, wie sich der Klimawandel speziell in der Region auswirkt.