"Die Psyche ist nicht die Ursache von Long Covid"
Ein langes Interview mit Michael Stingl in den Salzburger Nachrichten. Super! 🤩
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"Damit sich Long Covid bessert, muss man das Tempo drosseln. Warum das vielen schwerfällt und wie ihnen geholfen werden kann, erklärt ein Neurologe.
Das Coronavirus ist gekommen, um zu bleiben. Damit ist auch die Zahl der postviralen Erkrankungen stark angestiegen. Eine Ausprägung von Long Covid ist Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS). Michael Stingl, Neurologe und Long-Covid-Experte, erklärt, was Betroffene tun können und was es braucht, um die Versorgungslage zu verbessern.
SN: ME/CFS schränkt die Leistungsfähigkeit stark ein. Wie steht es um die ärztliche Betreuung der Betroffenen?
Michael Stingl: Menschen mit ME/CFS haben oft eine unauffällige Diagnostik, sie sind aber offensichtlich krank. Für sie gibt es immer noch keine guten Therapieangebote. Es heißt dann oft, es handle sich um ein psychosomatisches oder psychiatrisches Problem.
SN: Kann man das ausschließen?
Meist ja. Betroffene haben oft eine Odyssee an Arztbesuchen hinter sich und bringen in dicken Aktenordnern ausführliche Diagnostik mit. Dass bei all ihren Untersuchungen bisher nichts herauskam, liegt aber nicht daran, dass sie nichts haben. Ich sehe sehr viele Menschen, bei denen klar ist, dass kein psychiatrisches Problem vorliegt. Manche nehmen sogar Psychopharmaka – und dennoch geht es ihnen nicht besser. Ein psychiatrisches Problem ist natürlich als solches zu behandeln. ME/CFS ist aber eine schwere, körperliche Erkrankung, die eine psychische Komponente haben kann, aber nicht muss. Die Psyche kann ein verstärkender Faktor sein. Sie ist aber nicht die Ursache von ME/CFS. Das ist eine leidige Diskussion, die derzeit innerhalb der Ärzteschaft geführt wird. Die Gefahr dabei ist, dass eine große Anzahl an Menschen nicht adäquat behandelt wird.
SN: Kommt es bei Long Covid häufig zu Fehldiagnosen?
Fehldiagnose ist ein hartes Wort. Wenn jemand sagt, er oder sie ist erschöpft, muss man dran denken, dass es ein psychiatrisches Problem sein könnte. Was heutzutage oft passiert, ist, dass die Routinediagnostik unauffällig ist und es dann heißt, das sei ein psychisches oder psychosomatisches Problem. Was dabei vergessen wird: Chronische Erkrankungen machen immer auch etwas mit der Psyche und es ist nicht unwahrscheinlich, dass jemand aufgrund der körperlichen Krankheit eine psychiatrische Problematik entwickelt.
SN: Kann man Long Covid überhaupt diagnostizieren?
Einen eindeutigen Marker für die Routinediagnostik gibt es leider noch nicht. Bei Long-Covid-Patienten geht zu wenig Sauerstoff in der Peripherie, wo er gebraucht wird, in das Gewebe über. Bei kognitiver oder körperlicher Aktivität kommt die Sauerstoffversorgung nicht nach. Patienten beschreiben das so: Es geht ihnen der Saft aus. Zeigen könnte man das mit einer invasiven Messung bei einem Patienten, der am Ergometer sitzt. Dazu gibt es einige Studien. Wiederholt man Ergometrie an zwei aneinander folgenden Tagen, wäre bei ME/CFS-Patienten am zweiten Tag die Leistungsfähigkeit massiv herabgesetzt. Das ist aber organisatorisch aufwendig – und birgt die Gefahr, dass sich ihr Zustand bei Menschen mit postexertioneller Malaise (PEM) dauerhaft verschlechtert (bei PEM bzw. Belastungsintoleranz kommt es zu einer Verschlechterung der Symptome nach geringfügiger körperlicher und/oder geistiger Anstrengung, Anm.). Studien zeigen auch, dass ME/CFS-Patienten einen reduzierten Blutfluss ins Gehirn haben. Das könnte man untersuchen – aber auch das wird in der Routine nicht gemessen.
SN: Oft wird Post Covid ja als Erschöpfung beschrieben?
Menschen, die in der Vergangenheit psychiatrische Erkrankung hatten, sagen mir: Ich kenne Erschöpfung, ich kenne Depression – aber das ist was anderes. Und obwohl sie das so klar formulieren, heißt es dann oft: „Na klar, die Erschöpfung kommt von der Depression.“ Mir ist wichtig zu betonen: ME/CFS hat nichts mit normaler Erschöpfung zu tun oder jener Erschöpfung, die bei vielen Erkrankungen vorkommen kann.
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