Als Teenager in den 90ern habe ich meine Oma zum ersten Mal gefragt, wie das denn war, damals, Nazizeit. Ich hatte irgendwie Angst zu fragen, aber sie hat einfach angefangen zu erzählen, in einem Ernst, den ich bis dahin nicht von ihr kannte. Sie hat mir nicht alles erzählt, aber schon in diesem ersten Gespräch fielen diese Sätze: "Wir haben das irgendwann alle gewusst. Keiner kann erzählen, dass er nichts gewusst hat." Und, vor allem: "Das darf nie wieder passieren."

1/7 ⤵️

Meine Oma war definitiv keine Widerstandsheldin. Sie hat Hitler zugejubelt, als er durch die nahegelegene Stadt gefahren ist, mit Fähnchen in der Hand. Ansonsten hat sie sich arrangiert, auf dem Land in Westfalen, sich durchgewurschtelt und irgendwie mitgemacht. Keine glühende Nazi, aber Teil des Volkes. Ihr Bruder ist gefallen, mein Großvater war in Kriegsgefangenschaft, kam ein paar Jahre nach Kriegsende heim, dann "Neuanfang" und erstmal nicht mehr drüber nachdenken.

2/7 ↕️

Wir haben öfter geredet. Irgendwann kam ich auf "Mein Kampf" und sie stand etwas unschlüssig auf, ging dann zum Schrank und holte aus einer hintersten Ecke das Buch hervor. Für mich war das völlig irre: Das verbotene Buch! Einfach da.

Sie hatte immer wieder überlegt, es wegzuschmeißen, das aber nie getan. Vorn ist eine gedruckte Widmung drin: "Dem jungvermählten Paare mit besten Wünschen für eine glückliche Ehe". Unterschrieben vom Bürgermeister.

3/7 ↕️

Sie hat wieder gesagt: "Das darf nie wieder passieren." Und ich war natürlich einfach nur furchtbar neugierig, wollte in dieses Buch schauen, es am liebsten mitnehmen und verschwörerisch in der Schule herumreichen. Aber ich habe es selbstverständlich nicht bekommen.

"Ich will nicht, dass das in die falschen Hände gerät. Es ist wichtig, dass die Leute wissen, was passiert ist. Aber es darf nicht in falsche Hände."

4/7 ↕️

Ein paar Jahre später habe ich historische Druckbetankung bekommen.

Oma wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt. Ich war jung erwachsen und wir haben uns öfter zum Essen getroffen, etwas mehr auf Augenhöhe. Sie hat mir nochmal alles erzählt, plastischer. Über die Verführung gesprochen, das Schweigen, das Verdrängen. Über Schuld. Es war ihr unendlich wichtig, alles weiterzugeben.

5/7 ↕️

Als Oma gestorben ist, stand ich irgendwann allein mit meiner Mutter in der fast ausgeräumten Wohnung. Alle nahen und fernen Verwandten waren da gewesen und hatten sich im Nachlass bedient, Besteck und Schüsseln und Bildbände mitgenommen, wie das so ist.

Und dann ging meine Mutter zu einem Eckregal, griff dahinter und zog ausgerechnet "Mein Kampf" hervor.

6/7 ↕️

"Mama hat mir gesagt, dass du das haben sollst. Du würdest schon verstehen, warum."

Da stand ich dann. Immer noch ziemlich jung erwachsen, das Herz und den Kopf voller Ideale und Weltverbesserung und nur zukunftsgerichtet - und da schickt mir Oma einfach eine Botschaft zur Vergangenheit noch aus dem Grab. Werde ich nie vergessen.

Ich hoffe, ich kriege das besser hin als sie damals. Ich hoffe auf Verbündete.

Das darf nie wieder passieren.

7/7 ⤴️

@chrysomeles I wish I had better words to express my appreciation for you sharing this. Thank you seems inadequate, but thank you.
@Still_Nimmy
It may be naive, but I think it's one of the most important legacies I have. And not just me, but everyone else of my generation here who could still talk to their grandparents and learn from it. That's why I wanted to share this.

@chrysomeles

Wohwww, was für eine Geschichte, danke fürs posten!!!

Vielleicht magst Du noch schreiben "wann" in etwa diese Gespräche stattfanden. Bei mir gabs die nicht. Hätten dann die frühen 70er sein müssen. Später lebten auch viele nicht mehr. Aber die Stimmung war deutlich anders, als in 90ern - z.B., meine ich.
Nochmal: Danke!

@Attac_Norden
Meine Oma ist 1917 geboren und 2007 gestorben, ich bin Jahrgang '79 und das fing so in den 90ern an und ging dann bis eben in die 2000er.

Und natürlich nicht permanent. Wir haben auch viel über ganz banale Dinge geredet, Gott und die Welt, uns wegen Quatsch gestritten und einfach getratscht und so 😂

@chrysomeles
Danke schön!
Ich wünsche dir Verbündete!
@haferlasche
Ich nehm dich da mal mit ✊🏼
@chrysomeles
Gern.
Wenn auch manchmal schwerst strauchelnd.
Aber damit bin ich ja auch nicht allein.
🌹

@chrysomeles Danke für deine Worte!
Ich habe tatsächlich Tränen in den Augen. Weil es niemals wieder passieren darf! #NieWiederIstJetzt #NieWieder

Und dann denke ich an brennende Flüchtlingsunterkünfte in den 1990ern und ... und die heutige politische Zersetzung der Demokratie. Und suche meinen Anker.

@chrysomeles starke Geschichte. Danke fürs teilen!
@chrysomeles Bedrückend und beängstigend. Ein so wichtiger Beitrag gegen das Vergessen. Danke fürs Teilen!
@chrysomeles
Meine Großeltern väterlicherseits wohnten in Detmold Heiligenkirchen. Ich ('71) habe bei ihnen auch - als Abiturient - zum ersten Mal "mein Kampf" gelesen. Wenn das in der Schule durchdekliniert ist, wirkt das Buch ja wie eine Parodie. Es ist schon erschreckend, wie platt damals Propaganda war - und wie platt heute auch die Neo-Nazis daher kommen.
Oma war wohl schon etwas geprägt, ist aber doch sehr weltoffen geblieben und hat die Welt bereist. Opa war etwas einfacher - für ihn zählten menschliche Werte und ich glaube, er hat die Nazis immer verachtet. Er war an der Ostfront und hat nie darüber geredet. Aber er war sehr herzlich und ein ganz toller Opa.
(Ich sitze gerade in seinen alten Sessel und bin plötzlich etwas gerührt.)
"Nie wieder" zu verstehen, ist so wichtig!

@chrysomeles Als meine Grosseltern gestorben sind war ich für diese Gespräche noch zu jung. Ich glaube auch nicht das sie mögluch gewesen wären.
Meinen Dank an deine Oma.

#AndieUrenkel2060

@chrysomeles

Danke.

Überlege gerade, die story meiner familie zu veröffentlichen. HM.

@chrysomeles Tja, was hätte deine Oma wohl zur heutigen Lage gesagt wo wir wieder mittendrin sind im Faschismus. Irgendwie dacht ich, gut, dass sie das nicht mehr mitbekommen hat. Ich erinnere mich an eine Bekannte in Irland, Lady Ingram >100! WWI und WWII. Sie lebte als es in Irland noch keinen Strom, kein fließend Wasser, und keine Autos gab. Erinnere mich sehr gerne an die Gespräche mit Ihr. Hab da sehr lange gelebt, leider jetzt umständehalber wieder in Deutschland. Thanks for sharing!💐 🤘

@chrysomeles
Diese WUCHT der Erkenntnis, die in diesem Post steckt. Ich sags dir ganz ehrlich, mir stehen die Tränen in den Augen. Mein Opa ist leider 2009 gestorben und er hat die Zeit im 3. Reich als 12jähriger erlebt. Aber was er von seinen Eltern erzählt hat, wie sein Vater nach Dachau gebracht wurde... Heute würde ich mit meinem Diktiergerät da sitzen (was ich eigentlich zum Aufnehmen von meiner Musik benutze) und das alles aufzeichnen, festhalten. Ich hab so viele Details schon wieder vergessen.

Danke, dass du von deiner Oma erzählt hast.

@momo
Ja, wäre natürlich einen Podcast wert. Leider nicht mehr möglich...
@chrysomeles Ich finde es wirklich schön, dass Du mit Deiner Oma zu sprechen konntest und dass sie Dir die Ausgabe von "Mein Kampf" hinterlassen hat.
- Davon ab:
Kann mir nicht vorstellen, dass dieses schlecht geschriebene Werk allein irgendjemanden zu einem strammen Nazi gemacht hat. Es würde mich wundern, wenn es überhaupt jemand von Anfang bis Ende durchgehalten hat! 🚫
@chrysomeles Wow. GÄNSEHAUT!!! Ich weiß noch, dass ich damals mit meinem Opa immer wieder versucht habe über dieses wirklich schwierige Kapitel seines Lebens zu sprechen. Zumal er auch verwundet und mit einigen weiteren Geheimnissen aus dem Krieg zurückgekehrt ist. Es war für ihn immer ein ganz großes Tabu. Vieles nicht Erzählte hat er mit ins Grab genommen.😢
@chrysomeles Was für eine Geschichte! Danke, dass Du uns teilhaben lässt 🥰
@chrysomeles 🤜🤛
Meine Großeltern haben wenig erzählt. Ein Uropa war Parteimitglied aus Überzeugung... Meine eine Oma hat oft behauptet, sie hätte nicht gewusst, was damals passierte, aber das war gelogen.
Mein Opa sagte mal, sie hätten gar keine Wahl gehabt und mussten irgendwie mitlaufen (er war als ganz junger Mann bei der FLAK).
Aber DAS Buch hat er auch weitergegeben.
@chrysomeles Und ich kämpfe dafür, dass sowas nie wieder passiert. Wenn auch nur im Kleinen. Aber mein Neffe, der mich total cool findet, hat schon mehrfach freiwillig Referate in der Schule gehalten über den Aufstieg der Nazis und die Parallelen zur AfD 💪  
@chrysomeles Danke für diese schöne Geschichte und danke für die Offenheit deiner Oma. Wir hatten dieses Buch, Mein Kampf, auch einmal, kamen durch irgendeine Erbengeschichte daran und haben es Anfang der ‘90 Jahre in“sichere“ Hände abgegeben. Hatte es damals angefangen zu lesen, kann nicht mal mehr sagen wie ich es fand. Erbost war ich als irgendwo KI generiert stand, dass es ein ganz wunderbares Buch wäre.
@chrysomeles Meine eine Oma hat nie darüber geredet. Aber sie war relativ offen rassistisch, kam aus dem Großbürgertum (sie selbst war Ärztin!), und wie ich aus Unterlagen nach dem Tod meiner Mutter erfuhr, mit einem SS-Rottenführer verheiratet (hat den Krieg nicht überlebt). Ich vermute, dass Bild das sich da abzeichnet, ist nicht falsch.
Meine andere Oma kam aus einfachsten Verhältnissen hat einige Geschichten aus dem Krieg erzählt, fand das meiste schlecht, aber die Autobahnen und Jobs gut.